Was haben die Protestanten jemals für uns getan?

Lutherdenkmal in Hannover.
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Lutherdenkmal vor der Marktkirche in Hannover.
Zum Reformationstag
Was haben die Protestanten jemals für uns getan?
"Was haben die Protestanten jemals für uns getan?" haben wir scherzhaft in unserem Video zum Reformationstag 2015 gefragt. Die Antworten erklären wir hier ein bisschen genauer - für alle, die wissen wollen, was uns die Reformation über die Jahrhunderte hinweg gebracht hat.

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Demokratie in der Kirche

Die protestantischen Kirchen in Deutschland sind sämtlich demokratisch verfasst. Es wird keine Entscheidung "von oben" getroffen, sondern letztlich immer von den Gemeinden vor Ort. Nach einem ähnlichen Prinzip wie die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik Deutschland werden Angelegenheiten auf mehreren Ebenen und durch mehrere gewählte Parlamente geregelt. Angefangen beim Kirchenvorstand beziehungsweise dem Kirchengemeinderat, in Kreissynoden, Landessynoden und schließlich der Synode des Zusammenschlusses der verschiedenen Landeskirchen, der Evangelischen Kirche in Deutschland, der EKD. Die sogenannten Freikirchen, also die nicht verfassten Kirchen nehmen es mit der Basisdemokratie noch genauer. Hier entscheidet ausschließlich die Gemeinde vor Ort darüber, wer hier Pfarrerin oder Pfarrer wird, oder wie die Geldmittel der Gemeinde ausgegeben werden.
Jede Form von Demokratie braucht Geduld und ein großes Maß an Verantwortungsgefühl aller, die an ihr mitwirken. Schon mit 14 Jahren kann jeder getaufte und konfirmierte Protestant die Gremien wählen, oder sich bereits in solch ein Gremium wählen lassen, das über die Richtung entscheidet, in die seine Kirche steuert. Hier gibt es weitere Informationen dazu, wie die evangelische Kirche in Deutschland verfasst ist. (Frank Muchlinsky)

Kirchenmusik

Mit Martin Luther wird nicht nur die Bibel verständlich. Auch als genialer Liedschöpfer spricht er die Sprache der Gläubigen und bedient sich ihrer Melodien. Die bahnen ihm den Weg nicht nur in die Köpfe, sondern auch ins Gemüt der Menschen. Die deutschen Kirchenlieder werden zu einem Grundstoff der jungen evangelischen Kirchenmusik. Ein anderer ist die musikalische Rhetorik, die Heinrich Schütz (1585-1672) und seine Zeitgenossen im aufblühenden Barock entwickelten: Sie übersetzt das Bibelwort in Töne, steigert es zugleich im Ausdruck und fügt ihm jenen Schuss Transzendenz hinzu, der unsagbar ist. Musik wird Klangrede, sicher in Dramatik und Aufbau, im Gebrauch der Affekte wie eine gut gemachte Predigt. Die Verbindung von Sprache und Musik wird durch die Reformation innig und eindrücklich – zwei gleichwertige Sphären, die sich gegenseitig inspirieren und heben. Diese damals neue Verbindung von Sprache und Musik, besonders nachdrücklich gepflegt von Johann Sebastian Bach, bleibt der Hauptcharakterzug evangelischer Kirchenmusik bis heute. (Jörg Echtler)

Diakonie

"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" Dieser Satz Jesu galt natürlich schon von Anfang an im Christentum. Die "tätige Nächstenliebe", die "Diakonia", war einer der Hauptgründe dafür, dass sich das Christentum in der Antike so schnell ausbreiten konnte. Je mehr weltliche Macht die Kirche im Laufe ihrer Geschichte einsammelte – und dazu die entsprechenden finanziellen Güter –, desto mehr verkam diese Nächstenliebe zu bloßen Almosen. Ein evangelischer Pfarrer namens Johann Hinrich Wichern entdeckte die tätige Nächstenliebe erneut als eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche und aller ihrer Gläubigen. Das geschah im ausgehenden 19. Jahrhundert, also in einer Zeit, in der der Kirche durch die aufkommende Arbeiterbewegung eine kräftige Konkurrenz entstand. Wichern war bewusst, dass der Kirche die Gläubigen weglaufen würden, wenn die sich nicht stärker sozial engagieren würde. Er schaffte es, genügend Geld und engagierte Menschen für diverse Projekte zusammenzubekommen. So entstand in einer Welt, die sich mehr und mehr differenzierte, eine starke protestantische Stimme für die soziale Gerechtigkeit und ein großes Netzwerk an echter Nächstenliebe. Hier können Sie einen Ausschnitt aus der Arbeit der Diakonie entdecken. (Frank Muchlinsky)

Aufklärung

Die Aufklärung als historische Epoche von der Mitte des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ist keine unmittelbare Folge der Reformation. Aber zwischen den Ideen der Renaissance-Humanisten vom ausgehenden 11. bis zum 15. Jahrhundert, der Reformation im 16. Jahrhundert und der Aufklärung des 17. Jahrhunderts lässt sich eine durchgehende Verbindung ziehen, unter anderem geprägt vom Blick auf den Menschen als selbstbestimmt handelndes Wesen und von dem Willen, "ad fontes" (zu den Quellen) zu gehen - nach Möglichkeit auf die Original-Texte zuzugreifen. Sowohl die Neuübertragung der vorhandenen griechischen Bibeltexte durch Erasmus von Rotterdam als auch Luthers Bibelübersetzung ins Deutsche folgten diesem Prinzip. In theologischen Fragen blieben der Reformator Luther und der Katholik Erasmus allerdings zerstritten. Der friesische Reformator Johannes a Lasco hingegen war einer von Erasmus' Schülern. In der "Volksaufklärung" des 18. Jahrhunderts spielten auch protestantische Pfarrer eine wesentliche Rolle, unterstützt von dem Vorbild der Lutherbibel in Volkssprache. Aufklärung und Reformation sind im 16. und 17. Jahrhundert untrennbar miteinander vermischt. In Immanuel Kants berühmten Satz: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen", klingt auch Luthers "Freiheit eines Christenmenschen" wider (mehr dazu siehe weiter unten). (Hanno Terbuyken)

Abendmahl (und Wein) für alle

In der katholischen Kirche war es bis ins Mittelalter üblich, dass Priester und Gemeinde die Kommunion in Brot und Wein empfingen. Die Ehrfurcht vor der Gegenwart Christi führte aber dazu, dass die Kelchkommunion außer Gebrauch kam – aus übertriebener Vorsicht. Das Konzil von Konstanz (1414-18) vertrat die Ansicht, Christus sei auch in nur einem der beiden Abendmahlselemente ganz gegenwärtig. Letzterem widersprach Martin Luther zwar nicht, fand aber, es sei "gottlos und tyrannisch" von der Kirche, "den Laien das Abendmahl in beiderlei Gestalt zu verwehren". Immerhin habe Christus geboten: "Trinket alle daraus" (Mt 26,27). 1521 feierte der Reformator Andreas Karlstadt in Wittenberg demonstrativ einen Gottesdienst mit Brot und Wein für alle. Die Kelchkommunion wurde zum Unterscheidungsmerkmal zwischen den Konfessionen – und bleibt es offenbar, auch wenn die katholische Kirche sie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) erlaubt. Ein praktisches Problem, das durch den Trend zum Eintunken verschärft wird,  könnte Priester vom Spenden der Kelchkommunion abhalten, sagt der Liturgiewissenschaftler Jürgen Riegel: Konsekrierter Wein, der übrig bleibt, muss ausgetrunken werden. (Anne Kampf)

Bibeln auf Deutsch

Martin Luthers vielleicht größte kulturelle Leistung war die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache. Weil es vor der Reformation nur Bibeln auf Latein oder Griechisch gab, blieb das Wort Gottes den meisten Menschen ein verschlossenes Buch. Sie waren darauf angewiesen, die biblischen Geschichten von den Priestern zu hören. Zwischen 1521 und 1534 übersetzten Luther und weitere reformatorische Mitstreiter wie Philipp Melanchthon die komplette Bibel ins Deutsche und brachen damit das Informationsmonopol der Priesterschaft. Der Buchdruck mit beweglichen Lettern, um 1450 von Johannes Gutenberg erfunden, trug seinen Teil zur Verbreitung des Wortes bei, denn Bibeln und religiöse Schriften - darunter auch Ablassbriefe! - gehörten zu den am häufigsten gedruckten Werken aus der Anfangszeit des Buchdrucks. Von Luther stammt der berühmte Ausdruck, man müsse "dem Volk aufs Maul schauen", wie er in seinem Sendbrief vom Dolmetschen schreibt: "Man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, wie diese Esel tun, sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen." (Hanno Terbuyken)

Frauenordination

"Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, [...] sondern sie sei still", heißt es im 1. Timotheusbrief (2,12). Außerdem habe Jesus nur Männer zu Aposteln berufen, so die Haltung der katholischen Kirche. Dass es in den evangelischen Landeskirchen in Deutschland heute Pfarrerinnen gibt, hat vor allem gesellschaftliche Gründe: Während des Zweiten Weltkrieges vertraten Vikarinnen vielerorts fehlende Pfarrer; sie tauften, predigten und teilten das Abendmahl aus, obwohl sie es nicht durften. 1958 trat in Deutschland das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Kraft, und in den 50er und 60er Jahren führten die meisten Landeskirchen die Frauenordination ein. Vollkommen gleichberechtigt mit männlichen Kollegen sind Pfarrerinnen in der EKD seit 1978 (in Schaumburg-Lippe erst seit 1991). Theologisch lässt sich die Frauenordination mit einer grundlegenden Stelle aus dem Galaterbrief (3,28) begründen: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." (Anne Kampf)

Weiterführende Links:
http://alt.ikvu.de/html/archiv/ikvu/frauenordination/rogge-frauenordination.html
https://www.ekd.de/bevollmaechtigter/stellungnahmen/52400.html

Freiheit

"Von der Freiheit eines Christenmenschen" heißt Luthers Streitschrift von 1520, die der Reformator mit dem berühmten Doppelsatz einleitete: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Luthers revolutionäre Idee war, dass die Menschen sich die Gnade Gottes nicht verdienen müssen, zum Beispiel durch gute Werke oder Ablässe. Christen müssen sich also nicht auf das Erlangen von Gottesgnade konzentrieren, sondern haben den Kopf frei für sich und ihre Mitmenschen. Das meint er mit dem Doppelsatz: Auf der einen Seite muss sich ein Christ nicht starren Glaubensregeln unterwerfen, denn der Glaube allein ist "die Gerechtigkeit der Menschen und aller Gebote Erfüllung", schreibt Luther. Auf der anderen Seite folgen die guten Werke auf die Erfüllung des Glaubens, und das macht den Menschen zum "dienstbaren Knecht aller Dinge". Luther fasst es selbst so zusammen: "Das ist die christliche Freiheit, der alleinige Glaube, der macht, dass wir nicht müßig gehen oder Übles tun wollen, sondern dass wir keines Werks bedürfen, um Gerechtigkeit und Seligkeit zu erlangen." Freiheit und die daraus resultierende Verantwortung spielen seitdem im Protestantismus eine ganz große Rolle. Wer selbst beim Reformator nachlesen will, findet die hochdeutsche Version von Luthers "Von der Freiheit eines Christenmenschen" hier. (Hanno Terbuyken)


Wenn Sie übrigens nach unserem Video dachten: Ja, eigentlich könnte man ja wieder in die Kirche eintreten, können Sie sich an die Wiedereintrittsstelle der evangelischen Kirche oder an ihren Pfarrer oder ihre Pfarrerin vor Ort wenden!

Dieser Text erschien zum ersten Mal am 30. Oktober 2015 auf evangelisch.de