Vortrag: Das digitale Erbe der Reformation

Foto: Martin Weber
Hanno Terbuyken beim Vortrag am 17. Oktober 2015 in Berlin.
Vortrag: Das digitale Erbe der Reformation
Beim Netzpolitischen Kongress der aej "Sind wir schon drin, oder was?" hat evangelisch.de-Portalleiter Hanno Terbuyken einen Votrag zum Titel "Das digitale Erbe der Reformation" gehalten, den wir hier dokumentieren.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, 

als Martin Luther sein Pamphlet "Von der Freiheit eines Christenmenschen" schrieb, das war 1520, hatte er kein Smartphone und kein Internet zur Verfügung. Die Menschen seiner Zeit konnten sich nicht einmal vorstellen, wie wir heute kommunizieren. So schnell, wie wir heute E-Mails, Tweets oder Snapchats austauschen, waren damals nur Gebete – die wurden unmittelbar gehört. Alle andere Kommunikation brauchte Tage oder Wochen, bis sie ihr Ziel erreichte, wenn man gerade nicht miteinander reden konnte. 

Trotzdem dienen uns die Ideen der Reformatoren bis heute als Leitlinien, wie wir mit unserer Realität umgehen können. Deswegen steht dieser Vortrag unter dem Titel "Das digitale Erbe der Reformation". Aber wo fangen wir an, nach den Verbindungen zu suchen, die von der Reformation vor fast 500 Jahren bis zur aktuellen Diskussion um die Digitalisierung aller Lebensbereiche reichen? Ich würde sagen, wir nehmen den Titel dieses Vortrages dafür auseinander und schauen uns die drei Schlüsselbegriffe genauer an: Digital - Erbe - Reformation. 

Weil es am längsten her ist und die Grundlage für unsere Überlegungen bietet, fange ich beim letzten Punkt an: Reformation. Es ist in den 20 Minuten, die ich hier nutzen möchte, kaum fassbar, die Folgen der Reformation umfassend zu erläutern, aber ich glaube, das müssen wir auch nicht. Denn um zu erkennen, was die Reformatoren für unsere Gesellschaft alles hinterlassen haben, haben andere bereits wertvolle Arbeit geleistet, auf die wir uns stützen können. Trotzdem lohnt es sich, ein paar Schlüsselmerkmale aufzuzeigen. 

Die Reformation

Luther, Zwingli, Calvin und Konsorten brachten mit den theologischen Auseinandersetzungen zwischen der Veröffentlichung von Luthers Thesen gegen den Ablass 1517 und dem Augsburger Religionsfrieden 1555 die damalige katholische Kirche mächtig ins Wanken. Die Betonung der Gottesgnade für jeden und das Zulassen eines individuelleren Glaubens stand gegen die Werkgerechtigkeit und die ablass-getriebenen Gottesgnade. Der neue Konfessions-Konflikt hatte auch eine gigantische politische Dimension für das damalige Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das schließlich nach dem 30-jährigen Krieg mit dem Westfälischen Frieden von 1648 eine neue, national-territoriale Gestalt fand. Diese Gestalt prägt das heutige Europa immer noch. Wir leben allerdings in einer Zeit, in der das Primat der Nationalstaaten und der staatlichen Souveränität zunehmend an Gewicht verliert, zugunsten einer grenzüberschreitenden, friedensstiftenden internationalen Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft steht gerade in diesen Tagen vor einer großen Herausforderung. Die von der christlichen Nächstenliebe gebotene Aufnahme von zehntausenden Menschen auf der Flucht lässt sich nur gemeinsam bewältigen. Dass Deutschland mit seiner protestantischen Kanzlerin als Vorbild in Europa dabei vorangeht, ist sicherlich auch ein Stück weit dem Bewusstsein einer individuellen Verantwortung zu verdanken, die sich aus den reformatorischen Lehren ergibt. 

Aber ich will nicht abschweifen in Flüchtlingspolitik, schließlich geht es bei unserem Kongress hier um Netzpolitik und die Frage, wie wir das Leben in der digitalisierten Gesellschaft gestalten wollen. Von Luther bis zur Vorratsdatenspeicherung ist ein langer Weg. 

Welches Schlüsselmerkmal der Reformation sollten wir also bei der Diskussion um Vorratsdatenspeicherung, Datensicherheit, informationelle Selbstbestimmung, Hashtag #Landesverrat, Youtube-Money und Adblocker im Blick behalten?

Luther selbst schreibt in "Von der Freiheit eines Christenmenschen" über die göttliche "Verheißung und Zusage" und paraphrasiert diese Zusage Gottes, wie nur Luther es damals konnte: "Siehe da, glaub an Christus, in welchem ich dir zusage alle Gnade, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit. Glaubstu, so hastu, glaubst du nit, so hast du nit." 

"Glaubstu, so hastu, glaubst du nit, so hast du nit." Von diesem Satz breitet sich ein ganzes Netz an Freiheit aus, das uns heute noch immer auffangen kann. Alles, was du brauchst, ist der Glaube an Christus! Dann wird es schon – dann hast du Gnade, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit. Das ist eine gigantische Zusage. Du brauchst keine guten Werke, keine bezahlte Vergebung durch den Klerus und keine Angst mehr vor dem Fegefeuer. Lass dich voll und ganz auf Christus ein und alles wird gut, und vor allem brauchst du dich nicht ständig um dein eigenes Seelenheil zu sorgen. Du hast den Kopf frei für die Welt um dich herum.  

Und aus diesem wahren Glauben folgen dann die guten Werke von allein. Aus dem Satz "Glaubstu, so hastu, glaubst du nit, so hastu nit" spricht eine  riesige Portion Optimismus: Wirf die ständigen Sorgen um dein Seelenheil über Bord! Glaube und lebe! Geh raus in die Welt und mach was, gerne auch mit anderen Menschen zusammen! Eigenständig, selbstbestimmt und frei! Die guten Werke kommen dann schon! Es ist diese optimistische Grundstimmung, die ich von vor 500 Jahren bis heute mitnehmen will. 

Was geben die anderen beiden Ansatzpunkte aus dem Vortragstitel her?

Das Erbe

Was ist das eigentlich, ein Erbe? Wir schlagen kurz nach im Gesetz und stellen fest: Dort ist es gar nicht das Erbe, sondern der Erbe. Der Duden gibt zwar beides her, aber im Gesetz ist ein Erbe immer eine Person, und die bekommt eine Erbschaft. Als Vortragstitel wäre "Der digitale Erbe der Reformation" auch interessant gewesen. Aber noch sind wir nicht so weit, dass wir ein Bewusstsein digitalisieren und zu einem Erben erklären könnten. Die Frage merken wir uns mal für einen Kongress in 20 Jahren vor: Kann ein virtuelles Bewusstsein oder eine künstliche Intelligenz eine Erbschaft antreten? 

Heute kann ich das noch nicht beantworten. Aber es erscheint mir keine überraschende Entwicklung, wenn die im übertragenen Sinne digitalisierte Gesellschaft in einigen Jahrzehnten tatsächlich digitalisierte Menschen enthielte. Schon jetzt kann man Menschen, deren kultureller Nachlass vor allem aus Publikationen und Ideen besteht, auf diese Weise betrachten. Wenn ich frage: Wer ist Martin Luther? werden sich die Antworten sehr ähnlich sein: Mönch, Reformator, Beim-Blitzen-Scheißer, Apfelbaumpflanzer, Ehemann, Tintenfass-Werfer – wir glauben, ihn zu kennen. Aber unser Bild von Martin Luther (und allen anderen historischen Figuren) formen wir ausschließlich aus reiner Information, nicht aus persönlicher Erfahrung. All diese Information ist digital gespeichert, vom Druckmanuskript bis zum Kinofilm. Luther ist schon längst ein digitalisierter Mensch, auch wenn noch keine künstliche Intelligenz seinen Namen trägt. 

Der dritte Ansatzpunkt im Vortragstitel ist der, weswegen wir uns überhaupt alle hier versammelt haben: das schöne Wörtchen "digital". 

Digital

"Digital" ist so ein bisschen zu einem Zauberwort geworden. Zumindest in der Verlagsbranche, die am meisten damit zu kämpfen hat, steht es für neu, aufregend, online, jung, zukunftsgerichtet, ausprobieren, irgendwie wichtig, aber immer noch unrentabel. Für Verlage ist ihre "Digitalstrategie" zum Gegenteil von "wir verkaufen gedruckte Produkte" geworden. 

Dabei werden auch die Printprodukte, die heutzutage noch verkauft werden, auf Computern gemacht, und Computer sind grundsätzlich digital. Digital bedeutet nichts anderes, als dass man mit Signalen arbeitet, die eindeutige Zustände haben. Das können beliebig viele sein, üblicherweise sind es aber zwei: aus/an, oder 0/1. Das findet sich schon in der Bibel, nämlich in der Bergpredigt, zu lesen bei Matthäus, Kapitel 5, Vers 37. Dort fordert Jesus Klarheit von seinen Zuhörern: "Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel." Ja, ja; nein, nein: anders gesagt: 1-1-0-0. 

Und auch Luthers anfangs zitierter Satz "Glaubstu, so hastu, glaubst du nit, so hastu nit" ist im Wortsinne digital. Entweder du glaubst, oder du glaubst nicht. Dabei ist es natürlich nicht so einfach mit dem Digitalen, denn auch auf einer digitalen Skala gibt es Zwischentöne und Grauzonen. Menschliche Gefühle und menschlicher Glaube sind erst recht nicht digital, denn sie sind nur in den allerseltensten Fällen Signale mit eindeutigen Zuständen. Selbst die großen Gefühle – Liebe, Hass, Trauer, Freude – sind selten eindeutig. Sie sind unberechenbar und kompliziert. Das gilt auch für den Glauben, den Luther so vehement einfordert. In unserer heutigen Welt, in der Erkenntnisse von Hypothesen und Experimenten stammen statt aus Offenbarungen und Prophezeiungen, ist ein Glauben voller Zweifel eine ganz andere Selbstverständlichkeit als vor 500 Jahren. Ein starrer Hundert-Prozent-Glaube wäre aber auch kein lebendiger, gelebter Glaube, wie Luther ihn wollte. Wer anfängt, sich in Glaubensfragen entlang fester ja/nein-Regeln zu bewegen, verliert schnell die Liebe zu den Menschen aus dem Blick, die den Kern unseres christlichen Glaubens ausmacht.

Aber die materielle Welt um uns herum ist längst komplett digitalisiert, weil sie sich überall auf Computer verlässt. Selbst das Radio, lange Zeit letzte Bastion analoger Übertragungswege per Funk, gibt's inzwischen digital, und zwar nicht nur im Studio, sondern auch in der Übertragung. Wenn wir von einer "digitalisierten Gesellschaft" sprechen, meinen wir meistens vor allem eines: nämlich eine Gesellschaft, die ohne das Internet nicht mehr funktionieren würde. Und zwar radikal nicht mehr. Bei einem plötzlichen Ausfall des gesamten Internets könnten wir kein Geld mehr abheben, keine Ampelschaltung würde funktionieren, der öffentliche Nahverkehr bräche zusammen, die Medienwelt sowieso und der Strom wäre auch weg. Ganz zu schweigen davon, dass die meisten Menschen auf einen Schlag ihre wesentlichen Kommunikations-Kanäle zu anderen Menschen verlieren würden. 

###embed|code|1###

Internetleitungen, mobil und fest installiert, sind in den vergangenen 25 Jahren zu einer unverzichtbaren Infrastruktur neben dem Strom-, Wasser- und Straßennetz geworden. Wobei der ein oder andere sicherlich zustimmen würde, dass das Internet wichtiger ist als Straßen.

Ich glaube, dass der Gegensatz zwischen buchstäblich unberechenbaren Menschen und der berechenbaren Datenwelt aus Nullen und Einsen, in der wir leben, der fundamentale Grund dafür ist, dass das Internet immer noch von vielen Stellen kritisch beäugt wird, auch von Menschen innerhalb der evangelischen Kirche.  

Dazu kommt, dass dieses unverzichtbare Netz derzeit von ein paar großen Plattformen und Unternehmen dominiert wird, auf deren Diensten sich ein Großteil der sozialen Interaktion, der Informationssuche oder des Konsums abspielt: Google, Facebook, Amazon, Twitter, Apple, Microsoft und so weiter. Wir alle sind ständig auf ihren Plattformen unterwegs, deren Algorithmen mehr über uns wissen als wir über sie. 

Zwei große Ängste

Zwei große Ängste gibt es dabei. Die eine große Sorge ist, dass die Kommunikation verroht oder "unecht" wird, wenn Menschen sich schriftlich online unterhalten. Ich glaube, das ist vor allem eine Generationenfrage: Wer mit digitalen Kommunikationsmöglichkeiten aufgewachsen ist, dem fehlt sowieso der Vergleich zu früher. Ja, die interpersonale Kommunikation verändert sich – aber schon zu Luthers Zeiten haben Priester von der Kanzel gegen gedruckte Bibeln auf Deutsch gewettert, weil sie die gewohnte Ordnung in Gefahr sahen. Ich sehe da den Auftrag, Vorbild zu sein, aber keine unmittelbare Gefahr für die Freiheit im Netz. (Ein weiterführender Gedanke dazu: Die Aggressivität, Dummheit und Angriffe in vielen Kommentarspalten, gerade auch auf Facebook und Youtube, sollte uns dazu anhalten, diese Kommunikationsräume genauso so als justiziable Räume zu betrachten wie in der Kohlenstoffwelt. Dafür gibt es schon staatliche Instrumente, die hierfür gestärkt werden könnten. Wie könnte zum Beispiel eine "Digitalstreife" der Polizei aussehen?)

Die andere große Angst ist aber, dass sich Menschen in dem sozialen Raum Internet nicht mehr selbstbestimmt bewegen können, weil sie keine Kontrolle darüber haben, was Facebook etc. über sie wissen und wo sie überall Datenspuren hinterlassen. Zuletzt ist diese Diskussion beim Medienkonzil der bayrischen Landeskirche geführt worden.  

Johanna Haberer, Professorin für Christliche Publizistik in Erlangen, hat das in einem Interview mit evangelisch.de so zusammengefasst: "Ich finde, es ist eine theologische Aufgabe, die Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass diese Internet-Firmen zu viel Macht haben. […] Einerseits stecken im Internet ungeheure Möglichkeiten, wie zum Beispiel, dass Menschen in Afrika plötzlich ihre Sachen selber verkaufen können und nicht auf Zwischenhändler angewiesen sind. Der Punkt ist nur, dass das Netz wenigen Firmen gehört. Wir haben als Theologen aus dem Alten und dem Neuen Testament gelernt: Eine weltliche und irdische Macht, die nicht kontrollierbar ist, ist nicht nur gefährlich, sondern auch nicht in Gottes Sinn." 

Ihr Vorschlag, damit umzugehen, war: Man solle sich von Facebook und Twitter doch weitgehend fernhalten, am besten gar nicht nutzen. Ein Vorschlag, der mir realitätsfern erscheint. Das wäre ein bisschen so, als lebte man in einer Hütte im Wald ohne Strom – das kann zwar sehr schön sein, aber man ist von der Welt getrennt, in der die Mehrheit der Menschen lebt, und kriegt immer alles zu spät mit. Kann man machen, ist für eine Kirche, die bei den Menschen sein will, aber keine gute Idee. Dem reformatorischen Erbe entspricht so ein Verkriechen meines Erachtens ebenfalls nicht. 

Stattdessen sollten wir fragen: Wo wird Freiheit und Selbstbestimmtheit in der digitalen Welt wirklich bedroht und wie antworten wir darauf, statt uns davor zu verstecken?

Ich glaube, dass der Optimismus, wie Luther ihn uns aus der Reformation mitgegeben hat – hab den Kopf frei von Sorge um dein Seelenheil! – diese Freiheit  zunächst einmal stärkt. Man muss sich der eigenen Freiheit erst bewusst werden, um sie auch zu nutzen. Menschen wie Bill Gates, Steve Jobs und Mark Zuckerberg haben das getan und mit Microsoft, Apple und Facebook Unternehmen geschaffen, die vorher undenkbar waren. Sie haben sich immer nach großen Zielen gestreckt und sich auf dem Weg dahin nicht von Kleingeistigkeit und Sorge ablenken lassen. Das Internet, wie es heute ist, hat es in dieser Form noch nie gegeben. Das Internet, wie es übermorgen sein wird, können wir uns heute nicht einmal vorstellen. Ich sehe den wichtigsten regulatorischen Ansatz deshalb nicht darin, darüber zu klagen, dass Unternehmen erfolgreiche Produkte anbieten. Die sehen in zwei, fünf oder zehn Jahren sowieso wieder völlig anders aus. Viel wichtiger ist, die Struktur zu erhalten, in der die Ideen für solche Produkte, Plattformen und Dienstleistungen entstehen und umgesetzt werden können. 

Intransparente Insellösungen können zum Problem werden

Die Meinungs- und Pressefreiheit war schon zu Luthers Zeiten essentiell, um die Ideen der Reformatoren per Buchdruck und Flugblatt in die Welt zu bringen. Der freie Zugang zu Informationen ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Menschen selbstbestimmt leben können. "Luther setzt […] die skizzierte Möglichkeit eines direkten Zugangs zu dem gesamten Datenpool der Bibel als eine selbstverständliche Notwendigkeit voraus", erläutert der Historiker Michael Giesecke in seiner Geschichte des Buchdrucks (Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit, Suhrkamp 1994, S. 245). Dieser Zugang zum gesamten Datenpool ist im heutigen Internet wichtiger denn je – und Google, das sich diesen Auftrag selbst auf die Fahnen geschrieben hat, ist dafür eines der wichtigsten Hilfsmittel. Zugleich sind aber sowohl Facebooks "Instant Articles" wie auch Googles neues Open-Source-Projekt "Accelerated Mobile Pages Project (AMP)" dabei noch problematischer als die reine Suche, weil sie Informationen nach intransparenten, wirtschaftlich getriebenen Kriterien besser oder schlechter verfügbar machen – was natürlich für Googles Suchfunktion auch gilt, aber da steht immerhin das Ziel dahinter, möglichst alles zugänglich zu machen. Die eigenen, kontrollierbaren Umgebungen, die die Internetgiganten damit schaffen, werden dann zum Problem, wenn sie die Offenheit des zugrundeliegenden Netzes aushebeln wollen. 

Um diese Offenheit zu erhalten, brauchen wir eine generelle Gewährleistung von Netzneutralität. So wie für die Reformatoren die möglichst freie Verbreitung ihrer Ideen entscheidend war, ist für die Meinungsfreiheit heute eine Infrastruktur entscheidend, die einen gleichwertigen Zugang zu allen online verfügbaren Angeboten sicherstellt. Es geht dabei nicht darum, Zugriffszahlen künstlich anzugleichen, dafür ist jedes Angebot immer noch selbst zuständig. Es geht darum, dass der potentielle Zugang zu allen Angeboten für alle Nutzer gleich ist. 

Stellt euch mal folgendes vor: Ihr wohnt in Hannover und wollt jemanden in Braunschweig besuchen. Das sind rund 70 Kilometer. Weil ihr euch aber nicht leisten könnt, dem Besitzer der Autobahnauffahrten auf dem Weg 15 Euro mehr pro Monat zu bezahlen, dürft ihr für den Weg nach Braunschweig die Autobahn nicht benutzen. Ihr braucht statt einer guten Stunde mindestens anderthalb. Ja, schlimmer noch: Ihr müsst sogar mit dem Fahrrad fahren, weil der Besitzer der Straße vor eurem Haus eure Einfahrt so schmal gemacht hat, dass ihr mit dem Auto nicht mal mehr rauskommt. 

Würden wir autoverliebten Deutschen uns das gefallen lassen? Nein. Aber genau das wird mit dem Internet passieren, wenn Netzneutralität nicht dauerhaft regulatorisch garantiert wird. Das ist eine große regulatorische Aufgabe, um unsere digitale Freiheit zu erhalten. Und dabei ist Freiheit übrigens wirklich digital im Sinne des "ja, ja; nein, nein" – Infrastruktur kann nicht nur ein bisschen neutral sein.

Luther und Konsorten haben mit ihrer Betonung der unvermittelten Gottesgnade für jeden Menschen außerdem eine Institution gleich mit abgeschafft, die heute nur noch sprichwörtliche Bedeutung hat: Das Fegefeuer. An diesem Freitag ist es auf einem Umweg aber zurückgekommen: Die große Koalition hat die Vorratsdatenspeicherung beschlossen. In diesem digitalen Fegefeuer landen keine Menschen, aber unsere Verbindungsdaten und wohl auch der Wortlaut unserer SMS. Bis die Gerichte das Gesetz wieder kippen, werden dort Verbindungsdaten zehn Wochen, Handy-Bewegungsdaten vier Wochen lang aufbewahrt. Das Fegefeuer war mit der unvermittelten Gottesgnade nicht vereinbar. Ebenso ist die anlasslose Überwachung durch Vorratsdatenspeicherung mit einem freien Internet nicht vereinbar.

Aber Luthers schöner Satz "Glaubstu, so hastu, glaubst du nit, so hast du nit" gibt uns auch hier wieder Hoffnung. Wir dürfen den Glauben daran nicht aufgeben, dass das Internet ein Raum für Freiheit bleiben soll und kann, ohne künstliche Drosselungen und anlasslose staatliche Überwachung. Ein Netz, das diesen Namen auch verdient und nicht zu einer Containerstadt voller undurchdringlicher Wände wird. Lasst uns den Optimismus bewahren, mit dem Luther uns Protestanten schon im 16. Jahrhundert ausgestattet hat! Dann können wir das Netz in dem Sinne mitgestalten.