Nach der Provinz haben ARD und ZDF irgendwann die Regionen an Nord- und Ostsee als Krimischauplatz entdeckt. Noch stellt sich kein entsprechender Überdruss ein, aber wenn das so weitergeht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Zuschauer keine Lust mehr auf wortkarge Nordlichter haben. Dank Reihen wie "Nord Nord Mord" und "Friesland" und diverser Einzelfilme lässt mittlerweile gerade das ZDF regelmäßig mysteriöse Todesfälle im oder am Meer aufklären: letzte Woche erst "Tod auf der Insel", diesmal "Engel unter Wasser". So lange die Geschichten allerdings so unvorhersehbar sind wie diese, die Schauspieler ausnahmslos glaubwürdig agieren und die Kamera diese spezielle Atmosphäre einfängt, so lange werden die Filme wohl auch weiterhin funktionieren.
Ähnlich wie zuletzt in "Die Mutter des Mörders" ist im Grunde von vornherein klar, dass der Hauptverdächtige, ein geistig Behinderter, unschuldig ist, aber zunächst spricht alles gegen ihn: Die kleine Anna ist tot in seinem Bett gefunden worden. Vor allem der Vater (Sascha Alexander Gersak) des Mädchens ist anschließend derart lautstark auf dem Lynchjustiztrip, dass man gar nicht anders kann, als ihn für den wahren Mörder zu halten. Natürlich liegen die Dinge aber ganz anders, und wie so oft in solchen Geschichten ist der Film mindestens ebensoviel Drama wie Krimi (Drehbuch: Jörg von Schlebrügge, Roderick Warich). Der Rahmen wiederum orientiert sich an den Gepflogenheiten des Inselkrimis: Anders als etwa auf Sylt, wo "Nord Nord Mord" spielt, reisen die Ermittler vom Festland an, und natürlich sind sie aus Sicht der Einheimischen die Fremden. Es ist vor allem der Inselpolizist (Maxim Mehmet), der diese Haltung repräsentiert: Erst bietet er dem Kollegen aus Flensburg das Du an, dann nimmt er es wieder zurück, weil der Kommissar auch beim Wodka am Feierabend nicht aufhört, Fragen zu stellen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dieser Lubosch (Hanno Koffler) und sein Partner Steinhilb (Walter Kreye) sind ohnehin interessante Figuren. Die personelle Konstellation ist dramaturgisch ähnlich aufgebaut wie in "Tod auf der Insel": Als Ermittler sind die beiden zwar automatisch zentrale Charaktere, aber sie stehen nicht zwangsläufig auch ständig im Zentrum. Lubosch ist der Jüngere, scheint aber das Sagen zu haben. Biografische Details bleiben ausgespart. Anhand von Telefonaten erfährt man, dass Steinhilb gerade Großvater wird, aber ansonsten werden die beiden auf den Beruf reduziert; sieht man davon ab, dass es zwischen Lubosch und Judith (Anna Maria Mühe), der Tante des toten Mädchens, ein wenig knistert, und Lubosch mehrfach aus einem Alptraum hochschreckt, in dem er ähnlich im Meer versinkt wie das tote Kind. Ohnehin bleiben die handelnden Personen sehr im Ungefähren, ohne dabei aber klischeehaft zu wirken. Als bekannteste Mitwirkende ist Anna Maria Mühe zwangsläufig der Star des Films, aber auch Judith wird konsequent der Handlung untergeordnet. Tragischste Figur der Geschichte ist ohnehin ihre depressive Schwester Sybille (Anna Schudt), die vor einigen Jahren ein zweites Kind adoptiert hat; angesichts der weißblonden Haare und der blauen Augen ist fast schon zu offenkundig, wer Lauras Mutter ist.
Lange offen bleibt dagegen, wer Anna auf dem Gewissen hat. Trotzdem verzichtet Regisseur Michael Schneider auf die übliche Krimispannung. Natürlich ist die Mördersuche ein prägendes Motiv, aber viel reizvoller sind die Dinge, die zwischen den Personen passieren; und natürlich die Bilder. Gedreht wurde auf Föhr; das spätwinterliche Schmuddelwetter und die gern nebelverhangenen Aufnahmen (Kamera: Andreas Zickgraf) tragen enorm dazu bei, dass "Engel unter Wasser" ein gewisses emotionales Unbehagen hervorruft. Schneider bedient sich zwar auch moderater Thriller-Elemente, aber nicht im Sinne des Horrorfilms, selbst wenn die tote Anna immer wieder mal durch den Film geistert. Gemeinsam mit der fast schon zärtlichen Musik sorgen die fließende, aber ruhige Kameraführung für eine beinahe bedächtige Erzählweise. Viele Zusammenhänge werden nur angedeutet, was ebenfalls sehr sympathisch ist. Es sind vor allem die düsteren Kinderzeichnungen, die immer wieder daran erinnern, dass sich auf der Insel eine Tragödie abgespielt hat; und es wird nicht die letzte bleiben.