Nach Recherchen des ZDF-Magazins Frontal 21 sieht es so aus, als würden bestehende Standorte, an denen nach wie vor Atomwaffen in Deutschland stationiert sind, nicht geschlossen. Vielmehr sollen wohl im Rheinland-Pfälzischen Büchel alte nukleare Waffen durch moderne, lenkbare Atombomben ersetzt werden. Ist das nicht eine Form von nuklearer Aufrüstung?
Renke Brahms: Es ist eine Tatsache, dass es diese Standorte gibt und dass diese Standorte auch nochmals ausgebaut werden. Und wenn das tatsächlich dazu dient, dass dort auch entsprechende Kapazitäten von Flugzeugen sind, die dann diese Bomben tragen können, dann ist das natürlich eine Form von Aufrüstung. Entscheidend ist aber tatsächlich die Qualität dieser Atombomben, weil diese gezielte Steuerung einen qualitativen Sprung bedeutet. Und das entspricht nicht mehr dem Nicht-Verbreitungsvertrag, sondern das ist eine deutliche Aufrüstung und keine Begrenzung.
Welche Gefahren sehen Sie dabei?
Brahms: Ich befürchte, dass das die Illusion stärkt, man könne einen begrenzten oder begrenzbaren Atomwaffeneinsatz tatsächlich durchführen. Und das macht natürlich einen Krieg mit diesen Mitteln wieder führbar. Das ist meines Erachtens dann auch eine Abkehr von dem alten Gedanken der Abschreckung durch Atomwaffen.
Es ist vorgesehen, dass im Ernstfall Piloten der Bundeswehr mittels des NATO-Prinzips der "nuklearen Teilhabe" diese Atombomben sogar in ihren Tornado-Kampfjets transportieren. Damit wäre Deutschland doch aktiv an atomaren Kampfhandlungen beteiligt. Wie bewerten Sie das?
Brahms: Ich glaube nicht, dass das mit der Grundhaltung der Bundessrepublik Deutschland in den letzten Jahren vereinbar ist. Eigentlich ging die Bewegung ja eher dahin, die Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen. So stand es auch im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Regierung, in verschiedenen Bundestagsbeschlüssen, in Initiativen der Grünen und anderen. Ich halte es für höchst problematisch, wenn dann deutsche Soldaten und deutsche Flugzeuge solche Waffen transportieren.
"Atomwaffen sind heute kein Mittel der Abschreckung mehr"
Vor Ort in Büchel hält der evangelische Pfarrer Mahnwachen gegen die stationierten Atomwaffen. Wie stehen Sie dazu – und wie sieht der Standpunkt der evangelischen Kirche aus?
Brahms: Ich unterstütze das, finde das auch gut. Das ist ein wichtiges Signal, um darauf aufmerksam zu machen, dass es immer noch Atomwaffen in Deutschland gibt. Und die EKD hat sich in der Tat in den letzten Jahren auch immer wieder dazu geäußert. Die EKD-Friedensdenkschrift von 2007 ("Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen") sagt ganz klar: Atomwaffen sind heute kein Mittel der Abschreckung mehr. Und ich habe zusammen mit Bischof Algermissen von Pax Christi schon vor einigen Jahren zum Hiroshima-Gedenktag eine Erklärung verfasst, in der wir uns einig waren: der Abzug der Atomwaffen ist eigentlich das Gebot der Stunde und das Ziel heißt "Global Zero", also Abschaffung aller Atomwaffen.
Was kann und muss denn in Richtung atomarer Abrüstung überhaupt getan werden aus Ihrer Sicht?
Brahms: Wenn ich das richtig verfolge, sind Verträge wie der Nicht-Verbreitungsvertrag und die Abrüstungsverhandlungen überhaupt ein bisschen in die Sackgasse geraten. Die Frage ist, wie man dieses Thema wieder beleben kann. Es gibt zum Beispiel eine österreichische Initiative, die unter humanitären Gesichtspunkten die Abschaffung und Ächtung von Atomwaffen fordert. Dem haben sich viele Länder inzwischen angeschlossen - Deutschland leider nicht.
Bundeskanzlerin Merkel verteidigt das Ganze ja sinngemäß so, dass sie sagt: Wenn WIR die Atomwaffen nicht stationieren, werden sie anderswo aufgestellt – und wir sind nur wehrloser. Kann man das so stehen lassen?
Brahms: Das Argument, dass es dann andere tun, ist natürlich weder friedensethisch noch friedenspolitisch ein hinreichendes Argument. Denn das können wir immer und an allen Punkten sagen. Wir müssen ja irgendwo mit der Abrüstung anfangen, wenn es nicht gelingt, dass es alle gleichzeitig tun. Und ich glaube, dass wir aus unserer Geschichte heraus ein starkes politisches Signal senden könnten, wenn wir an dieser Stelle konsequent wären und sagen würden: Das, was schon immer mal überlegt worden ist und was sogar mal ein Koalitionsbeschluss - auch unter Frau Merkel war – das setzen wir jetzt um.
Das Argument "wenn wir es nicht tun, tun es eben andere" wird ja auch oft ins Feld geführt, wenn es um deutsche Rüstungsexporte geht. Ein Themenabend in der ARD heute Abend thematisiert diese Exporte, die doch auch immer wieder in Krisenregionen gehen. Deutschland ist immer noch der viertgrößte Waffenexporteur der Welt und immer wieder scheinen da auch die Kontrollmechanismen nicht zu funktionieren. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Brahms: Zunächst mal finde ich es immer noch beschämend, dass Deutschland der viertgrößte Waffenexporteur ist - vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte mit zwei Weltkriegen, der friedlichem Revolution und dem Mauerfall 1989 und der gewachsenen Verantwortung Deutschlands in der Welt. Das ist ein völlig falsches Signal. Deswegen ist es richtig, zu sagen: Wir brauchen eine deutlich restriktivere Rüstungsexportpolitik. Heute steht auch nicht mehr das Arbeitsplatzargument so im Vordergrund: eine Konversion von Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie wäre möglich. Höchst problematisch aber ist vor allem, dass der Export zum Teil in Krisenregionen stattfindet. Weil der Absatzmarkt in Europa oder anderen Ländern nicht mehr so groß ist, ist dieser Anteil in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren gestiegen. Ein weiteres Problem, das im Vordergrund steht, ist, dass der Export von Kleinwaffen, also Gewehren, Sturmgewehren und ähnlichem aus Deutschland gestiegen ist: Das ist ja das eigentliche Massenvernichtungsmittel unserer Tage. Das befeuert Konflikte an vielen Orten dieser Erde. Da sind auch Kontrollmechanismen wie die neue "Endverbleibskontrolle" zu kurz gedacht, denn wir wissen, wie viele Länder das umgehen und dass die Waffen dann an ganz anderen Orten landen als ursprünglich gedacht. So wundert man sich dann, dass zum Beispiel ausgesprochen viele Gewehre für die Polizei nach Mexiko geliefert wurden - auch ein Thema in der ARD heute Abend.
"Ich denke, dass wir uns sehr stark zu Wort melden an dieser Stelle"
Wie sieht denn die Haltung der EKD zum Thema Rüstungsexporte aus?
Brahms: Das reicht natürlich auch in der evangelischen Kirche von einem Eintreten für eine deutlich restriktivere Rüstungsexportpolitik bis hin zu einer Forderung nach einem kompletten Waffenexportverbot. Viel stärkere Rüstungsexportbeschränkungen fordert in diesem Zusammenhang auch die Gemeinsame Konferenz für Kirche und Entwicklung (GKKE), die den jährlichen Rüstungsexportbericht veröffentlicht. Das ist ja ein in der Bundesrepublik sehr anerkannter Bericht und neben dem der Bundesregierung auch der Bericht, der noch in der Öffentlichkeit sehr stark wahrgenommen wird. Dort hat die GKKE auch immer sehr stark auf den Export von Kleinwaffen aufmerksam gemacht und auf die Folgen, die daraus resultieren. In der Denkschrift der EKD zum Thema werden ebenfalls sehr starke Restriktionen beim Rüstungsexport gefordert, vor allen Dingen ein Verbot des Waffenexports in Krisenregionen.
Ist die evangelische Kirche da denn deutlich genug – oder könnte sie nicht noch viel lauter sein?
Brahms: Der Bericht der GKKE wird schon sehr stark wahrgenommen, vor allem auch, weil er immer wieder auf Probleme hingewiesen hat, die im Bericht der Bundesregierung gar nicht so aufgetaucht sind. Es gibt außerdem natürlich auch Gespräche und deutliches Mahnen. Natürlich kann man immer noch lauter sein. Aber ich denke, es ist schon so, dass wir uns sehr stark zu Wort melden an dieser Stelle als eine der zivilgesellschaftlichen Gruppen, die da nicht nur mit Forderungen kommt, sondern auch mit Expertise.
Wie sehen Sie das persönlich: Ist der Traum von einer friedlichen Welt - mit zumindest immer weniger Waffen – und von einer gewaltfreien Friedensethik nach jesuanischem Vorbild wirklich komplett naiv?
Brahms: Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit gewaltfreier Konfliktbearbeitung und Konflikttransformation beschäftigt. Wir sehen immer mehr, dass es Instrumente gibt, die wirken, die man einsetzen kann - und die viel zu wenig beachtet werden. Die Frage nach der Naivität würde ich da gerne mal umdrehen. Es ist doch so: Wer in einen militärischen Auslandseinsatz geht und denkt, man könnte (nur) mit militärischen Mitteln etwas in einem Land verändern, dafür sorgen, dass ein Land demokratisch wird - da würde ich sagen, DER ist höchst naiv. Außerdem muss man doch mal genau hinschauen. Wir haben Instrumente in Deutschland, zum Beispiel mit dem Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), mit dem Zivilen Friedensdienst (ZFD) und anderen, mit denen so viel mehr getan werden kann als gemeinhin angenommen. Und das ist überhaupt nicht naiv. Sich mehr um die Ursachen zu kümmern und um Alternativen zur militärischen Logik und zum Einsatz von Waffen, das ist überhaupt nicht naiv, sondern Realpolitik pur! Dafür möchte ich gerne werben. Allerdings fragt man sich dann schon auch, warum wir 81 Miliarden Euro für die Bundeswehr ausgeben und gerade mal 34 Millionen für den zivilen Friedensdienst. Das ist genau die Diskrepanz, die nach wie vor in unserer Politik herrscht und genau an dieser Stelle muss man dann fragen: Wer ist hier eigentlich naiv?