«Die Verbrechen lagen vor den Augen»

epd-bild / Jens Schulze
Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen (Archivbild).
«Die Verbrechen lagen vor den Augen»
Vor 70 Jahren begann in Lüneburg der erste Bergen-Belsen-Prozess
Nur fünf Monate nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen erhob ein britisches Militärgericht in Lüneburg Anklage gegen die Täter. Es war der erste große NS-Kriegsverbrecherprozess in Deutschland.
17.09.2015
epd
Karen Miether (epd)

Lüneburg (epd)Im September vor 70 Jahren blickte die Weltöffentlichkeit auf die niedersächsische Stadt Lüneburg. Dort eröffnete ein britisches Militärgericht am 17. September 1945 das Verfahren gegen Wachpersonal des Konzentrationslagers Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide. Fünf Monate nach der Befreiung von Bergen-Belsen wurden damit erstmals in einem großen Prozess in Deutschland die Gräueltaten in den NS-Lagern vor Gericht gebracht. Für deren Ausmaß fanden die Zeugen kaum Worte.

Unbestatte Leichen

"Niemand kann fassen, was sich da getan hat, der nicht dabei gewesen ist", sagt die heute 90-jährige Anita Lasker-Wallfisch. Die Überlebende von Auschwitz und Bergen-Belsen war gerade 20, als sie vor dem Lüneburger Gericht aussagte. Als bizarr habe sie es wahrgenommen, wie über eine völlig gesetzlose Zeit auf einmal vor Gericht verhandelt worden sei: "Die Verbrechen lagen ja vor den Augen."

Als die britischen Truppen Bergen-Belsen am 15. April 1945 befreiten, fanden sie Tausende unbestatteter Leichen und Zehntausende todkranker Menschen. In Bergen-Belsen starben mehr als 52.000 KZ-Häftlinge und rund 20.000 Kriegsgefangene.

"Kein Bericht und keine Fotografie kann den grauenhaften Anblick des Lagergeländes hinreichend wiedergeben", beschrieb der britische Brigadier Hugh Llewelyn Glyn Hughes als Zeuge der Anklage, was er und seine Landsleute vorfanden. Systematisch hatten die Mörder von Bergen-Belsen Menschen umgebracht, verhungern, verdursten und unter erbärmlichen hygienischen Umständen an Krankheiten sterben lassen.

44 Frauen und Männer mussten sich nun, rund zwei Monate vor den Nürnberger Prozessen, vor dem Lüneburger Gericht verantworten - vom KZ-Kommandanten Josef Kramer über die Aufseher bis hin zu elf ehemaligen Häftlingen mit Funktionärsstellung.

In dem Prozess hätten die Briten auch die Rückkehr zu einem Rechtsstaat vollziehen und demonstrativ die Rechte der Angeklagten wahren wollen, sagt der Historiker John Cramer aus Regesbostel bei Hamburg. Ehrgeizige Anwälte übernahmen die Verteidigung und schossen dabei nicht nur aus Sicht der Zeugen einige Male über das Ziel hinaus. "Das hat dazu beigetragen, dass viele Zeugen später verstummt sind", sagt Cramer, der umfassend über den Prozess geforscht hat.

An welchem Wochentag und zu welcher Uhrzeit sie gesehen habe, dass einer der Angeklagten jemanden ermordete, wurde Anita Lasker-Wallfisch gefragt. "Niemand hatte eine Uhr. Es gab ja nichts Normales mehr", sagt sie. "Ich war damals sehr, sehr wütend über diese Schau."

Im Gerichtssaal in einer Lüneburger Turnhalle ging es nicht allein um Bergen-Belsen. "Dass der Prozess einen so großen Stellenwert hatte, lag daran, dass dort erstmals auch über die Verbrechen von Auschwitz verhandelt wurde", sagt der Historiker Cramer.

Täter und Opfer

Zwölf Beschuldigte wurden auch wegen Verbrechen in Auschwitz angeklagt. Josef Kramer war zunächst Kommandant von Auschwitz-Birkenau. Franz Hössler und der Arzt Fritz Klein schickten dort Menschen in die Gaskammern. Auch die Aufseherin im Frauenlager Bergen-Belsen, Irma Grese, kam nach der Auflösung der Vernichtungslager im Osten aus Auschwitz.

Viele sind davongekommen

Bei den Todesmärschen in Richtung Westen waren auch Gefangene nach Bergen-Belsen getrieben worden. So saßen im Lüneburger Prozess den Tätern befreite Menschen gegenüber, die Verbrechen in beiden Lagern bezeugen konnten - unter ihnen Anita Lasker-Wallfisch. Die Zeugen berichteten zuhauf von Gewaltexzessen, Schlägen und Erschießungen. Elf Angeklagte wurden zum Ende des Lüneburger Prozesses am 17. November 1945 zum Tode verurteilt und später in Hameln hingerichtet. 19 wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, 14 freigesprochen.

Davongekommen sind aber viel mehr. "Ein paar Menschen sollten Verbrechen aufklären, für die mehrere Hundert Menschen als Täter infrage kamen", sagt Cramer. An den Urteilen sei zu erkennen, dass den Tätern die persönliche Beteiligung an den jeweiligen Gräueltaten nachgewiesen werden musste - anders, als es die Anklage zunächst vorgehabt habe.

Trotz großen Medienechos zweifelt der Historiker an einem "Lerneffekt" für die deutsche Gesellschaft infolge des Prozesses. Besonders britische Boulevardzeitungen hätten die Täter als wahre Bestien beschrieben. So sei es für die Masse der Bevölkerung leicht gewesen, sich von der eigenen Verantwortung für nationalsozialistische Verbrechen zu distanzieren.

"Was haben wir gelernt? Nicht viel", sagt auch Anita Lasker-Wallfisch. Anders als damals begreife sie aber inzwischen den Prozess als einen Versuch, von der absoluten Rechtlosigkeit der Nazi-Zeit zu einer Normalität zurückzukehren. "Es war der erste Versuch, mit dem Thema umzugehen."