Das Perfide am Drehbuch von Urs Bühler ist die Einladung zur Identifikation mit dem verbitterten Vigilanten, der den Glauben an die Justiz verloren hat, das Gesetz in die eigene Hand nimmt und nun gleichzeitig Richter und Henker ist: Simon Amstad ist indirekt selbst betroffen, weil seine Frau (Sarah Hostettler) wiederholt von ihrem Chef vergewaltigt worden ist. Eine Reform der schweizerischen Strafprozessordnung hatte zur Folge, dass Täter jahrelang auf freiem Fuß bleiben, weil die Justiz überlastet ist. Die Besetzung dieses Wutbürgers mit Antoine Monot jr., der mit Korpulenz und Vollbärtigkeit eine gewisse Gemütlichkeit ausstrahlt, war eine clevere Entscheidung.
Woher Amstad über seine Fähig- und Fertigkeiten verfügt, wird nicht weiter thematisiert; jedenfalls ist er offenbar zum Präzisionsschützen ausgebildet worden. Solche Figuren gibt es in der Regel nur im amerikanischen Thriller („Ein Mann sieht rot“), und genauso hat Florian Froschmayer das Drehbuch auch inszeniert: Die blutigen Attentate sind ziemlich weit weg vom üblichen Fernsehkrimi. Die Spezialgeschosse sorgen dafür, dass die Schädel aufplatzen, was naturgemäß kein schöner Anblick ist. Die Opfer werden meterweit geschleudert; eine typische Kinofantasie. Auch die optisch aufwändige moderne Bildgestaltung (Patrick-David Kaethner) sieht eher nach Kino aus, vor allem, wenn sich die Kamera immer wieder in die Höhe schraubt. Übertroffen wird die vorzügliche und gerade auch im Detail ungemein sorgfältige Umsetzung noch durch die herausragende elektronische Musik von Adrian Frutiger, die im Verbund mit der Kameraarbeit für enorme Dynamik sorgt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Gekrönt wird dieser bemerkenswerte Film durch die darstellerischen Leistungen. Auch hier zeigt sich, wie gut „Ihr werdet gerichtet“ als Gesamtkunstwerk funktioniert: Froschmayer gelingt es, die Spannung durchgängig auf einem derart hohen Niveau zu halten, dass die kurzen Zwischenphasen nicht entspannend wirken. Deshalb ist es sogar fesselnd, dem Ermittlerduo Flückiger und Ritschard (Stefan Gubser, Delia Mayer) beim stillen Denken zuzuschauen. Das hängt natürlich untrennbar mit Bühlers vorzüglichem Drehbuch zusammen. Seine Geschichte wirkt nie zu weit hergeholt, weil die Figuren jederzeit glaubwürdig sind. Deshalb ist es auch völlig nachvollziehbar, dass Flückiger irgendwann die Sicherungen durchbrennen. Eine kleine, aber dramaturgisch entscheidende Rolle spielt Mišel Mati?evi? als gebrochener und vorzeitig gealterter früherer Attentäter, der im jugoslawischen Bürgerkrieg als Heckenschütze sogar Kinder ermordet hat. Der entsprechende Exkurs, aber auch die Szenen mit Amstads traumatisierter Frau verleihen dem Film eine beeindruckende atmosphärische Vielschichtigkeit, die in ein dramatisches Finale mündet.