Huang Yusong und Zhou Yanxiang haben mit ihrem Leben für die Religionsfreiheit bezahlt. In der Stadt Wenzhou, die als Christenhochburg in China auch als "Jerusalem des Ostens" bekannt ist, hielten die beiden 77 und 81 Jahre alten Frauen am 8. August 2015 eine Nachtwache. Sie wollten das Kreuz an der Fassade der protestantischen Kirche Yangme vor dem Abriss durch die Behörden bewahren. Da brach der Taifun Soudelor mit Sturm und Regen über die Stadt herein, die nahe der Küste des Ostchinesischen Meeres liegt. Im Nu stand die Kirche unter Wasser. Die beiden Kreuzwächterinnen ertranken in den Fluten. Ihre Leichen wurden am nächsten Morgen einige Hundert Meter von der Kirche entfernt gefunden.
Seit gut zwei Jahren lassen Chinas Behörden in Wenzhou und anderen Städten der Provinz Zhejiang Kreuze von Kirchen abreißen. 1.200 Kirche sollen in Zhejiang bereits Opfer des staatlichen Kreuzzugs geworden sein. Die Provinz ist mit geschätzten zwei Millionen Christen, die Mehrheit sind Protestanten, eine Hochburg des Christentums in China. Gleichzeitig ist Zhejiang Dank einer Wirtschaftspolitik, die auf freies Unternehmertum, Investitionen in die Infrastruktur und die Massenproduktion von Billigprodukten sowohl für den Konsum in China als auch für den Export setzt, eine der reichsten Provinzen Chinas. Viele der Unternehmer sind Christen.
Lange haben die Christen, Protestanten wie Katholiken, den Abriss der Kreuze geduldig ertragen. Schikane und Willkür durch Chinas Kommunisten sind schließlich nichts Neues, auch wenn die von Deng Xiaoping vor 36 Jahren gestartete Politik der Öffnung nach der Barbarei der Kulturrevolution den Religionen einen größeren Freiraum gebracht hat. Das scheint sich unter dem neuen Präsidenten Xi Jingping zu ändern. "Seit seiner Machtübernahme hat Xi Kampagnen gestartet, neue Institutionen geschaffen und Gesetze zur Einschränkung der Freiräume erlassen, die sich die Gesellschaft seitdem geschaffen hatte", sagt Maya Wang vom Hongkonger Büro der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW).
Für die bisher politisch nicht aktiven Christen Chinas ist das Maß voll, seitdem nicht mehr nur die unabhängigen und damit offiziell illegalen Hauskirchen Ziel staatlicher Schikane sind, sondern zunehmend auch die Kirchen der offiziellen, staatlich kontrollierten Kirchen. In Zhejiang greifen Pastoren und Gemeindemitglieder zum in China ungewöhnlichen Mittel des öffentlichen Protests gegen den Kreuzzug der Kommunisten. Unter den Protestlern sind die staatlich gelenkte Kirche Drei-Selbst-Bewegung der Protestanten und die vom Vatikan unabhängige Katholisch-Patriotische Vereinigung. Sie halten Gebetswachen ab, demonstrieren vor Behörden, riskieren von der Polizei verhaftet zu werden, solidarisieren sich mit den illegalen Hauskirchen.
Die Protestwelle hat inzwischen Hongkong erreicht. Paul Kwong, Erzbischof der Anglikaner in Hongkong, verurteilte die Kreuzabrisse als "Zerstörung der Religionsfreiheit" und "herumtrampeln auf dem Christentum". Der Rat der Christen von Hongkong, Dachverband der protestantischen Kirchen der chinesischen Sonderverwaltungszone, fordert die chinesische Führung in Peking auf, diese "illegalen Akte" sofort zu beenden.
Die Zivilgesellschaft zähmen
Offiziell begründet die Provinzregierung von Zhejiang den Kreuzabriss mit Gefahren für die Sicherheit der Öffentlichkeit auf Grund baulicher Mängel der Symbole des Christentums. Ein internes Dokument, das seinen Weg aus den Zimmern der kommunistischen Macht an die Öffentlichkeit gefunden hat, macht unmissverständlich klar, worum es in Wahrheit geht: die Präsenz der Christen in der Öffentlichkeit zu reduzieren.
Das wirft eine Reihe von Fragen auf. Warum Zhejiang? Wird die Antikreuzkampagne durch die Führung in Peking geduldet? Wurde sie gar von dort angeordnet? Was wollen die Kommunisten damit erreichen? Chinakenner gehen davon aus, dass die Kreuzabrisse den Segen von Präsident Xi haben, dem ehemaligen KP-Chef und Gouverneur von Zhejiang.
Korruption, Umweltskandale, die Missachtung der Menschenrechte, Streiks gegen niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen sowie das Ende des chinesischen Wirtschaftswunders sind die großen aktuellen Probleme der Volksrepublik. Für ihr Krisenmanagement greifen die Spitzenkader der Partei auch auf die alten Muster der kommunistischen Diktatur zurück. "Unter der Führung von Xi fährt die Regierung eine Kampagne mit dem Ziel, ihre Macht zu sichern. Die christlichen Kirchen werden als Teil der Zivilgesellschaft außerhalb des staatlichen Zugriffs gesehen, die es zu zähmen gilt. Die Entfernung der Kreuze scheint Teil dieser breiter angelegten Kampagne der Partei zu sein, ihre Legitimität sowie ihre Kontrolle über zunehmend regierungskritischere chinesische Gesellschaft zu sichern", sagt HRW-Chinakennerin Wang.
Symbolische Warnung an die christliche Gemeinschaft
Die chinesischen Christen sind die einzige organisierte Gruppe, die in etwa so viele Mitglieder zählt wie die mächtige Kommunistische Partei der Volksrepublik China, nämlich rund 100 Millionen. Die Zahl der Christen wächst stetig, die der KP-Mitglieder stagniert. Es ist sogar die Rede davon, dass selbst in höchsten Führungskadern der KP verkappte Christen sitzen. Darüber hinaus ist sich die KP der Rolle der Kirchen beim Sturz des Kommunismus in Osteuropa sicher sowie bei der Gründung der Republik China auf Taiwan.
Zhejiang ist im Visier der Kommunisten, weil die Provinz eine Hochburg des Christentums in China ist, während Provinzgouverneur Li Qiang ein ausgewiesener Gegner des Christentums ist. HRW-Expertin Wang ist davon überzeugt, dass die rigorose Kreuzabrissaktion in Zhejiang als symbolische Warnung an die christliche Gemeinschaft in ganz China zu verstehen ist.
Auch in anderen Regionen weht der Wind rauer. Im buddhistischen Tibet verschärft China die Unterdrückung des Wiederstands gegen seine Herrschaft. In der Region Xinjiang nehmen unter dem Vorwand des Kampfes gegen Terrorismus die Repression und die Polizeigewalt gegen die muslimischen Uiguren zu.
2030 könnten sich mehr als 240 Millionen Chinesen zum Christentum bekannt haben
In den Metropolen gehen die Sicherheitsbehörden gegen Menschenrechtsanwälte vor. Mehr als 200 Menschenrechtsanwälte wurden in den vergangenen Monaten festgenommen. "Das fühlt sich an wie der größte Angriff auf uns, den wir je erlebt haben", sagte Zhang Lei Mitte Juli gegenüber der New York Times. Kaum einem der festgenommen Anwälte sei es erlaubt worden, ihre Rechtsbeistände zu kontaktieren, fügte der Anwalt aus Südchina hinzu, der selbst von der Polizei festgenommen und verhört worden war.
Präsident Xi vermeidet offene Angriffe gegen Christen. Die erste Weihe in diesem August eines vom Vatikan anerkannten Bischofs seit drei Jahren war ein Signal für die vorsichtige Annährung zwischen Peking und Rom. Auf der anderen Seite aber stehen die Kreuzabrisse und Präsident Xis Vision eines "sinefizierten Christentums", also einer chinesischen Version des Christentums. Diese widersprüchliche Politik in einem System, dem Transparenz wesensfremd ist, lässt Chinaexperten ratlos.
Angesichts der wachsenden Zahl von Christen sei es eher kontraproduktiv, findet Professor Fenngang Yang, Direktor des Zentrums für Religion und Gesellschaft in China an der us-amerikanischen Universität Purdue. Für den Erhalt der "gesellschaftlichen Stabilität" wäre die Regierung besser beraten, eine so große und wachsende gesellschaftliche Gruppe nicht gegen sich aufzubringen. Zudem, findet Fenngang Yang, könne die Führung in Peking aus der Vergangenheit lernen. Die Unterdrückung des Christentums sei in der Kulturrevolution gescheitert und werde heute in der globalisierten, vernetzten Welt erst Recht scheitern.
"Die Zahlen sprechen für sich. Fenngang Yang schätzt, dass sich bis 2030 mehr als 240 Chinesen zum Christentum, die große Mehrheit davon zum Protestantismus, bekennen werden. China wäre dann damit weltweit das Land mit dem größten christlichen Bevölkerungsanteil."