Darüber hinaus sollten die Figuren zur Identifikation einladen; im Grunde also Voraussetzungen, die jeder Film erfüllen muss, wenn die Verantwortlichen wollen, dass die Zuschauer ihnen neunzig Minuten Lebenszeit schenken.
"Schutzlos" ist ein "Tatort" aus Luzern, und die Macher hatten all’ dies garantiert im Sinn. Die Geschichte ist allerdings düster, die Schauplätze sind trist, die Umsetzung ist farbentsättigt und die Handlung konsequent jedes Hoffnungsschimmers beraubt. Sie beginnt mit dem Asylantrag eines Teenagers aus Nigeria. Zwei Jahre später ist der Junge Mitglied der Drogenszene. Er und seine Kumpane werden überfallen, kurz drauf wird seine Leiche gefunden. Für den Kripochef keine große Sache, der Afrikaner wäre ohnehin bald abgeschoben worden und existierte aus Schweizer Sicht somit quasi schon nicht mehr. Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Kollegin Liz Ritschard (Delia Meyer) aber lassen nicht locker und landen umgehend in einem Sumpf, der so gar nicht zu den pittoresken Postkartenbildern passen will, mit denen sich die Schweiz gern assoziieren lässt.
Die Optik ist Kunst, der Inhalt ist Botschaft
Das spiegelt sich naturgemäß auch in der Bildgestaltung wieder. Tatsächlich ist "Schutzlos" im buchstäblichen Sinn durchaus sehenswert, denn Regisseur Manuel Flurin Hendry und sein Kameramann Felix Novo de Oliveira haben für die trostlose Geschichte die richtigen Bilder gefunden; und das nicht nur, weil die Straßenszenen ausgesprochen schäbig wirken. Kostümbild und Ausstattung sind überwiegend grauschwarz, die Außenaufnahmen sehen wie zu heiß gewaschen aus, was wiederum zur Folge hat, dass ausgerechnet die Wohnung eines Junkies dank des Kerzenlichts regelrecht heimelig anmutet. Die Optik ist Kunst, der Inhalt ist Botschaft, weshalb es wie immer, wenn es Buch und Regie nicht verstehen, ein Anliegen elegant zu verpacken, zu einem entsprechenden Kurzvortrag kommt; in diesem Fall referiert eine Sozialarbeiterin über das erbarmungswürdige Los jugendlicher Flüchtlinge (im Beamtenjargon "unbegleitete minderjährige Asylsuchende"), die erst abgeschoben werden dürfen, wenn sie volljährig sind. Die Zeit bis dahin müssen sie absitzen; Arbeit oder Ausbildung sind ihnen nicht gestattet. In einem zweiten Exkurs informiert ein etwas grobkörniger Kollege aus dem Drogendezernat das Duo aus der Mordkommission, wie der Drogenhandel funktioniert. Solche Szenen wirken fast unvermeidlich wie Fortbildungen; fürs Publikum.
Repräsentantin der bedauernswerten Flüchtlinge ist die Schwester (Marie-Helene Boyd) des toten Jungen, die ein erbarmungswürdiges Martyrium hinter sich hat. Obwohl sie mehr und mehr zur Hauptfigur der Geschichte wird, gelingt es Hendry nicht, sie einem ans Herz wachsen zu lassen. Das ist natürlich eine subjektive Empfindung, aber Filme spielen sich ja grundsätzlich im Kopf (oder auch im Herzen) des Zuschauers ab; Leinwände und Bildschirme sind bloß Medien. Die Handlung wird zunehmend verworrener, was auch daran liegen könnte, dass gleich zwei Autorenpaare am Werk waren, bevor Hendry seine Regiefassung schrieb.
Was ist Realität? Was Vision?
Fast interessanter als die Schicksale der jungen Asylbewerber ist eine Fußnote des Films, die gegen Ende natürlich noch richtig wichtig wird: Flückiger leidet unter anfallartigen und mit Halluzinationen verbundenen Kopfschmerzen, die ihn immer wieder außer Gefecht setzen. Erst später dämmert ihm, dass nicht jedes während einer solchen Attacke wahrgenommene Phänomen eine Vision ist. Die Aufnahmen von Flückigers Boot mit dem See und der Stadt im Hintergrund sind übrigens die einzigen wirklich schönen Bilder des Films, der bei einigen Prügelszenen auch unangenehm brutal ist. Handwerklich ein durchschnittlich guter "Tatort", aber optisch und inhaltlich alles andere als ein Vergnügen, zumal das Ende angemessen deprimierend ist.