Basis der Geschichte ist das Bedürfnis des Menschen, in jedem tragischen Ereignis nach einem tieferen Sinn zu suchen, um es auf diese Weise besser verarbeiten zu können. Daher gibt die Ärztin Helen Liebermann (Petra Schmidt-Schaller) auch keine Ruhe: Auf dem Weg zur Arbeit hat sie in den frühen Morgenstunden auf einer einsamen Landstraße einen jungen Mann überfahren. Sie wird zwar vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen, womit der Fall für die Staatsanwaltschaft erledigt ist, aber sie selbst lässt der Vorfall nicht los. Sie will wissen, warum sich der betrunkene Jugendliche nach einem verlorenen Handballspiel in einer nebligen Winternacht ohne Jacke und Schuhe weit weg von der nächsten Ortschaft auf der Straße rumgetrieben hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Natürlich ähneln die Nachforschungen der Ärztin, die um der Wahrheit willen sogar ihren Job riskiert, von außen betrachtet der üblichen Polizeiarbeit, weshalb der Film zwangsläufig Züge eines Krimis trägt. Der Unterschied liegt im Motiv: Die Tatsache, dass sie juristisch gesehen nicht schuldig ist, befreit Helen nicht von ihren Schuldgefühlen. Ihre Rekonstruktion der letzten Stunden des jungen Mannes sind also auch eine Form von Sühne.
Im Verlauf ihrer Recherchen findet die Ärztin heraus, dass sie nicht die einzige ist, die schwer an ihrer Last trägt. Die Geschichte verdankt ihren besonderen Reiz nicht zuletzt dem Umstand, dass ausgerechnet die Frau, die den Jungen überfahren hat, den Menschen aus seiner direkten Umgebung Trost zusprechen kann: seine Eltern (Ann-Kathrin Kramer, Peter Benedict) machen sich ebenso große Vorwürfe wie sein Trainer (Martin Lindow) und sein bester Freund (Jannik Schümann).
Autorin Esser und Regisseurin Franziska Meletzky schildern die Handlung konsequent aus Sicht ihrer Hauptfigur. Deshalb lernt man beispielsweise die Eltern des Jungen auch erst näher kennen, als Helen den Kontakt zu ihnen sucht; bis dahin zeigt die Kamera sie nur aus der Distanz. Die Bildgestaltung (Bella Halben) ist ohnehin von großer Sorgfalt geprägt. Allein die nächtlichen Nebelbilder sind eindrucksvoll. Als die Ärztin die Trauerfeier besucht, sieht man nie den gesamten Innenraum der Kirche, sondern bloß jenen Ausschnitt, den Helen durch eine Seitentür wahrnimmt. Zum Abschluss der Feier erklingt das bei solchen Anlässen beliebte "Stairway to Heaven" von Led Zeppelin. Komponistin Susan DiBona wird die Melodie von nun an immer wieder kaum hörbar in ihre sanfte und sparsam eingesetzte Filmmusik integrieren; auch das ist ein Beleg dafür, wie sehr "Die kalte Wahrheit" als Gesamtkunstwerk konzipiert worden ist.
Selbst kleine Rollen prägnant besetzt
Dazu trägt naturgemäß auch die Besetzung bei. Petra Schmidt-Schaller ist als Hauptfigur ohnehin eine gute Wahl, weil sie dank ihrer Natürlichkeit unmittelbar zur Identifikation einlädt; ihr Spiel lässt nie einen Zweifel an Helens Motiven. Die Tatsache, dass selbst quantitativ kleine Rollen prägnant besetzt sind, spricht nicht zuletzt für die Qualität des Drehbuchs; Ann-Kathrin Kramer zum Beispiel hat als Mutter nur wenige Szenen, aber sie verkörpert natürlich eine eminent wichtige Figur. Gleiches gilt für Rainer Bock als Anwalt, der mehr und mehr zu Helens väterlichem Freund wird. Das hat ebenfalls seinen Grund, aber der wird derart beiläufig erwähnt, dass man ihn quasi selbst entdecken kann.
Diese Souveränität von Meletzky, Regisseurin unter anderem des herausragenden niedersächsischen Doppel-"Tatort" "Wegwerfmädchen"/"Das goldene Band" (2012), ist ein weiteres Qualitätsmerkmal: weil man als Zuschauer auf diese Weise gewissermaßen selbst Teil der Handlung wird. Vordergründig mag das Drama unspektakulär wirken, aber dank der sorgfältigen Gestaltung und vieler für sich genommen scheinbar unwichtiger Drehbuchdetails weckt der Film große Anteilnahme; erst recht, als die Ärztin schließlich dank ihrer Hartnäckigkeit der titelgebenden "kalten Wahrheit" auf die Spur kommt.