Eigentlich kann das nicht funktionieren: Wenn eine Kurzgeschichte bloß zwölf Seiten lang ist, die filmische Adaption aber 112 Minuten dauert, muss der Film zwangsläufig Längen haben; es sei denn, die Vorlage stammt von Ferdinand von Schirach. Die Miniromane des Strafverteidigers sind prägnante Erzählungen. Sie beruhen auf wahren Begebenheiten, die der Jurist knapp und präzise schildert; seine mitunter nur wenige Seiten langen Storys sind ein Destillat der Wirklichkeit. Das ZDF hat bereits jeweils sechs Erzählungen aus seinen Kurzgeschichtenbänden "Verbrechen" und "Schuld" erfolgreich verfilmen lassen; allerdings dauerten die Kriminovellen auch nur jeweils 45 Minuten. Doris Dörries Film "Glück", der ebenfalls auf einer Story aus "Verbrechen" basiert, ist mehr als doppelt so lang: Geschickt nutzt die erfahrene Regisseurin die Leerstellen, die der Jurist dank seines lakonischen Stils anbietet.
"Glück" ist ein Drama, das sich schließlich als Liebesgeschichte mit märchenhaften Zügen entpuppt. Der Einstieg ist allerdings alles andere als romantisch: Nach einem Prolog, in dem Matthias Brandt als Strafverteidiger Noah Leyden erzählt, wie er der Heldin der Handlung zum ersten Mal begegnet ist, lernt man Irina näher kennen. Die junge Bosnierin ist arm, aber glücklich; allein das Bild vom knallroten Klatschmohnfeld spricht Bände (Kamera: Hanno Lentz). Doch dann zerschmettert ein Donnerschlag die Idylle, und von einem Moment auf den anderen endet Irinas bisheriges Leben: Als sie von der Arbeit heimkehrt, sind ihre Eltern ermordet worden; sie selbst wird auf dem Küchentisch von Soldaten vergewaltigt.
Die Ereignisse sind schon erschütternd genug, aber Dörrie zeigt sie in einer langen Sequenz ohne Dialog oder Geräusche; selbst Irinas verzweifelter Schrei, als die Soldaten endlich wieder weg sind, ist nur zu sehen, nicht zu hören. Ein Schnitt genügt, um zusammenzufassen, was anschließend geschehen ist. Auf die Stille der bosnischen Natur folgt die Großstadtkakophonie Berlins, wo Irina ihren Lebensunterhalt als illegale Prostituierte verdient.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Eines Tages trifft sie den jungen Punk Kalle (Vinzenz Kiefer); rührend einfühlsam beschreibt Dörrie, wie es sich die beiden jungen Menschen gegenseitig gestatten, den schützenden Panzer zu durchdringen. Irina, die bislang in einem Hotel gewohnt hat, mietet eine Wohnung, das Paar zieht zusammen, alles scheint gut; bis Kalle eines Tages einen Freier tot neben dem Bett findet. Er weiß, dass Irina die Ausweisung droht, und ringt sich zu einer verzweifelten Tat durch; und nun kommt auch Noah Leyden wieder ins Spiel.
Abgesehen von der vergleichsweise dezent gefilmten Vergewaltigungsszene und jenen Momenten, in denen Irina sich mit Stecknadeln Schmerzen zufügt, ist "Glück" über weite Strecken optisch harmlos; am Ende aber wird klar, warum 3sat diesen Film nicht um 20.15 Uhr ausstrahlen konnte. Bei aller Blutigkeit sind die entsprechendem Momente jedoch vor allem makaber, zumal der Tod schließlich noch eine grimmige Pointe beiträgt. Sehenswert ist das wie die Reihe "Verbrechen" von Oliver Berben produzierte Drama vor allem wegen der Schauspieler. Eine echte Entdeckung ist die Italienerin Alba Rohrwacher in ihrer ersten deutschen Hauptrolle. Auch Vinzenz Kiefer gelingt die Mischung aus demonstrativer Härte und großer Verletzlichkeit großartig. Viele kleine Rollen sind ebenfalls namhaft besetzt, von Matthias Brandt ganz zu schweigen.