Die Sat.1-Moritaten, in denen Held oder Heldin eine übersinnliche Verwandlung durchleben, um schließlich bessere Menschen zu werden, bilden mittlerweile ein eigenes Genre. Oft erzählt der Titel schon die ganze Geschichte ("Plötzlich 70!", "Plötzlich fett"). In diesem Fall wäre das "Plötzlich wahr" gewesen, aber "Zum Teufel mit der Wahrheit!" klingt natürlich besser; die Arbeitsversion hieß "Lügen macht glücklich". "Lügen haben schöne Beine" hätte ebenfalls gepasst, selbst wenn TV-Journalistin Kathrin (Bettina Zimmermann) nicht öfter schwindelt als andere Menschen; das gilt auch fürs Bett, wo sie ihrem deutlich jüngeren Freund Luca (Eugen Bauder) regelmäßig einen Orgasmus vortäuscht. Als sie wegen eines lästigen Juckreizes eine chinesische Heilerin aufsucht, verpasst die etwas boshafte Therapeutin ihr eine Arznei, die fatale Folgen hat: Kathrin kann fortan nicht mehr lügen.
Das ist im Grunde schon die ganze Geschichte, aber Autorin Barbara Jago (zuletzt "Warum ich meinen Boss entführte") hat den überschaubaren Handlungskern liebevoll verpackt und mit vielen Schleifen versehen. Der komödiantische Effekt entsteht durch die Konfrontation der Hauptfigur mit völlig alltäglichen Situationen, die regelmäßig zu peinlichen Bekenntnissen führen, weil Kathrin selbst die schlichte Frage "Wie geht’s?" nicht mehr mit dem üblichen "Danke, gut" beantworten kann. Sehr hübsch sind zum Beispiel die entsprechenden Dialoge mit dem Empfangsmann des Senders, der verblüfft ihren Schilderungen lauscht, oder die Begegnungen mit einer Kollegin, die völlig geknickt Kathrins knallharte Aussagen über ihre immer schrilleren Auftritte zur Kenntnis nehmen muss. Aber der plötzliche Wahrheitszwang der Journalistin hat auch richtig unangenehme Folgen: Ein Interview mit einem eitlen Filmstar (Rolf Kanies) führt zu einem Skandal, dann verliert sie der Reihe nach ihre Freundinnen, und schließlich macht auch Luca Schluss, weil er die Orgasmuslügen als inakzeptablen Vertrauensbruch empfindet.
Mitunter trägt Regisseur Grenz Henman bei der Umsetzung des Drehbuchs etwas zu dick auf; Bettina Zimmermann zum Beispiel muss ihren Aussagen gerade anfangs oft ein Augenrollen hinzufügen, um auf diese Weise "Ups, was hab’ ich jetzt schon wieder gesagt?!" zu signalisieren. In anderen Szenen allerdings passt es ganz gut, dass sie die Figur überspielt, etwa wenn Kathrin vor einem Spiegel das Schwindeln üben will und bloß ein lustiges Gemisch aus Quieken, Krähen und Krächzen zustande bringt. Auch schriftlich scheitert sie an der Unaufrichtigkeit, selbst am Laptop, was Zimmermann ebenfalls recht witzig verkörpert.
Natürlich nutzt Jago den Zwang zur Wahrheitsliebe weidlich aus. Gerade bei den Erziehungsmaßnahmen ihrer Teenagerkinder führen Kathrins Schwindelunfälle zu originellen Dialogen (etwa wenn es um den ersten Sex geht). Die Gespräche mit dem Ex-Mann (Christoph M. Ohrt) bleiben davon interessanterweise unberührt, denn bei ihm gibt es offenbar keinen Bedarf für Lügen: Michael hat sie wegen einer Jüngeren verlassen, würde aber gern in den Schoß der Familie zurückkehren und erschleicht sich mittels eines vorgetäuschten Herzinfarkts zumindest vorübergehend Asyl. Auch für Ohrt hat sich Jago eine wunderbare Momente ausgedacht; großartig ist zum Beispiel die Szene, in der er Luca die Tür öffnet und so tut, als hielte er ihn für den Freund seiner 16jährigen Tochter.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Nach dem Thriller "Die Verführung - Das fremde Mädchen" (2010) und der Komödie "Nachbarn süß-sauer" (2014, auch von Henman) ist "Zum Teufel mit der Wahrheit!" der dritte gemeinsame Sat.1-Film von Ohrt und Zimmermann, und tatsächlich wirken sie wie ein eingespieltes Boulevardtheater-Team: Da sich in den gemeinsamen Szenen keiner in den Vordergrund spielt, können sie ihre Gemeinheiten mit großer Gelassenheit vortragen; die Pointen brauchen weder Anlauf noch Ausrufezeichen. Jago versorgt die beiden allerdings auch mit ausgezeichneter Munition; der Film lohnt sich allein wegen der zum Teil bitterbösen Wortgefechte.
Die Geschichte spielt in Berlin, gedreht wurde jedoch in Südafrika, was ähnlich wie in der Sat.1-Komödie "Super-Dad" (26. Mai) auch bei der Mischung von Originalton und Synchronisierung recht geschickt kaschiert worden ist.