Parlamentspräsident Eduardo Cunha nimmt kein Blatt vor den Mund. Die "Schwulen-Ideologie“ müsse in Brasilien zurückgedrängt und traditionelle Familienwerte endlich wieder aufgewertet werden. Der stramm rechte Politiker nutzt seine Machtposition, um seit Jahresbeginn eine moralische Wende in Brasilien einzuleiten. Abtreibung soll grundsätzlich verboten werden, ein neues Statut soll ausschließlich die Beziehung von Mann und Frau als Familie definieren. Was andere als Komik bezeichnen würden, will Cunha allen Ernstes in Gesetzesform gießen: Eine sogenannte "Hetero-Phobie“ soll unter Strafe gestellt und ein "Tag des Hetero-Stolzes" ähnlichen Initiativen der Schwulenbewegung entgegengestellt werden.
Cunha, aktives Mitglied der Pfingstkirche "Assembleia de Deus", symbolisiert den Rechtsruck im brasilianischen Kongress und den zunehmenden Einfluss evangelikaler Politiker. Obwohl er der PMDB, einer Koalitionspartei der Regierung angehört, betreibt er offen Oppositionspolitik gegen die Mitte-Links-Präsidentin Dilma Rousseff. Im vergangenen Oktober war Rousseff für eine zweite Amtszeit gewählt worden, doch machen ihr die Dissidenten an der eigenen Basis das Regieren schwer.
Die parteiübergreifende Fraktion der Evangelikalen stellt mittlerweile 75 Abgeordnete, das sind fast 15 Prozent der Parlamentssitze. Um Mehrheiten für konservative Gesetzesvorlagen zu zimmern, haben sich die Religiösen mit anderen Gruppen zusammengetan, die ebenfalls durch den Rechtsruck bei den Kongresswahlen Ende vergangenen Jahres gestärkt wurden. Zum einen die "Null-Toleranz-Fraktion", die vor allem aus ehemaligen Polizisten und Soldaten besteht. Zum anderen die Agrarfraktion, die die Interessen der Großgrundbesitzer vertritt - gegen Kleinbauern und Indigene, die um ihre Landtitel kämpfen.
Die "BBB-Fraktion" feiert erste Erfolge
Erika Kokay, Abgeordnete der regierenden Arbeiterpartei PT, bezeichnet die neue Allianz griffig als BBB-Fraktion – "Bancada do Boi, Bíblia e Bala", zu deutsch "Fraktion der Rinder, Bibel und Gewehrkugeln“. Gemeinsam kommen die Herren Parlamentsabgeordneten schnell zu Mehrheiten und konnten im April einen ersten Erfolg für die Agrarier feiern: Die Kennzeichnung von Lebensmitteln, die genveränderte Pflanzen enthalten, soll nach Willen des Parlaments abgeschafft werden – nun muss noch der Senat abstimmen. Auch die Herabsetzung des Alters für Strafmündigkeit, dringliches Anliegen der Nulltoleranz-Fraktion, hat bereits wichtige Parlamentskommissionen passiert.
Die neue konservative Mehrheit im Parlament und in ähnlichem Ausmaß im Senat will Errungenschaften von sozialen Bewegungen, Minderheiten und Menschenrechtlern rückgängig machen, die die vergangenen zwölf Jahre PT-Regierung nutzten, um beispielsweise rassistische Äußerungen unter Strafe zu stellen oder um die Rechte Homosexueller zu stärken. Nach Meinung der Professorin Magali do Nascimento Cunha von der Methodistischen Universität in São Paulo hat diese Offensive seitens evangelikaler Politiker sogar einen bislang undenkbaren Brückenschlag zu katholischen Parlamentariern ermöglicht. "Die Fraktion der Evangelikalen hisst die Fahne der Familienwerte und der christlichen Moral gegen feministische und homosexuelle Positionen“, erklärte Nascimento Cunha im Gespräch mit der Zeitschrift 'Carta Capital'. "Dieser Diskurs hat auch andere konservative Gruppen auf den Plan gerufen und erstmals einen Dialog mit dem rechten Flügel der Katholiken ermöglicht.“
Früher ging es evangelikalen Abgeordneten weniger um die große Politik. Sie nutzen ihre Parlamentssitze, um ähnlich wie die katholische Konkurrenz Steuererleichterung zu bekommen oder Feiertage durchzusetzen. Jetzt versuchen Eduardo Cunha und zahlreiche gelernte Pastoren im Parlament, die gesellschaftliche Entwicklung Brasiliens zu beeinflussen. Allerdings gibt Nascimento Cunha zu bedenken, dass es sich bei den 'Evangelikalen' um ein sehr breites, heterogenes Spektrum handelt. Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen Pfingstkirchen wie der Assembleia de Deus und Neopfingstlern wie der "Igreja Universal", die in den letzten Jahren enormen Zulauf verzeichnete. "Die Pfingstler, die sich auf Bewegungen in den USA oder Skandinavien beziehen, dürfen nicht mit den Gruppen, die unabhängig in Brasilien entstanden sind, in einen Topf geworfen werden", so die Professorin für Kommunikation.