Nach seinem Regiedebüt "Ich habe meine Mutter getötet" (2009), in dem er auch die Hauptrolle spielte, wurde Xavier Dolan als Wunderkind gehandelt; ein Ruf, den er mit seinem zweiten Film "Herzensbrecher" bestätigte. Und doch wirken beide im Rückblick, als habe der Kanadier bloß für "Laurence Anyways" geübt. Das Drama ist in jeder Hinsicht großes Kino: emotional, bildgewaltig und herausragend gespielt.
Der Film erzählt die Geschichte des Literaturlehrers Laurence (Melvil Poupaud), der sich mit Mitte dreißig endlich dazu bekennt, sein bisherigen Leben im falschen Körper verbracht zu haben. Freundin Frédérique, genannt Fred (Suzanne Clément), fällt naturgemäß aus allen Wolken, will die Liebe ihres Lebens aber nicht aufgeben. Die Beziehung scheitert zwar dennoch, doch die beiden kommen nicht voneinander los; bis Laurence schließlich einen schmerzhaften Schlussstrich zieht.
Dolan hat die Handlung in den Neunzigerjahren angesiedelt, sie erstreckt sich über zehn Jahre. Ein Interview mit einer Journalistin bildet die akustische Klammer, das von Dolan zum Teil selbst entworfene Kostümbild und vor allem die ausgesprochen stimmige Musikauswahl von Prokofjew ("Romeo & Julia") über Beethoven (fünfte Symphonie) bis hin zu ausgewählten Songs jener Jahre sorgt für den nötigen Zeitgeist. Eine Wucht aber sind die Bilder, die Dolan ersonnen und gemeinsam mit Kameramann Yves Bélanger umgesetzt hat. Sie sorgen immer wieder dafür, dass der Film Züge eines Traums annimmt: Mal bricht eine Welle über Fred zusammen, als sie im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzt, mal schneit es bunte Kleidungsstücke über das Paar, und nach dem eigentlichen Ende der Geschichte, als Fred und Laurence endgültig getrennte Wege gehen, wirbelt mitten in Montreal derart viel Laub durch die Luft, dass die Sicht beinahe ähnlich eingeschränkt ist wie in einer anderen Szene durchs Schneegestöber. Mitunter gestalten Dolan und Bélanger die Bilder auch mal extrem sparsam und verengen die Sicht auf die Hauptfiguren so lange, bis diese wie eingesperrt wirken oder in die Ecke gedrängt werden. Und beim Interview im Gegenlicht sieht die Journalistin aus wie ein Mann und Laurence wie eine Frau.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Man kann sicher darüber streiten, ob der Film tatsächlich über zweieinhalb Stunden lang sein muss; gerade in der zweiten Hälfte hätte Dolan das Drehbuch etwas straffen können. Andererseits spielen Melvil Poupaud und Suzanne Clément einfach gut. Clément wurde in Cannes für ihre schauspielerische Leistung als Beste Darstellerin geehrt. Großen Anteil an der Glaubwürdigkeit gerade dieser Rolle hat die Synchronregie; Anita Vulesica macht ihre Sache als Sprecherin richtig gut. Sehenswert sind auch die wichtigen Nebendarsteller, allen voran Nathalie Baye als Mutter Julienne, die trotz ihrer vorbehaltlosen Liebe zum Sohn nicht aus der Haut ihres konservativen Mannes kann, sowie Monia Chokri als Freds Schwester Stéfanie, die sich über Laurence’ Wandlung mokiert, obwohl sie selbst einen eher extravaganten Lebensstil führt. Auch für die Nebenfiguren findet Dolan starke Bilder; Juliennes Emanzipation zum Beispiel kulminiert in der Zertrümmerung des Fernsehers.
Natürlich erzählt Dolan auch viel über die Vorteile, mit denen sich Laurence mitunter recht schmerzhaft auseinandersetzen muss: in der Schule, in einem Restaurant, in einer Kneipe. Und doch ist "Laurence Anyways" dank Fred weniger ein Drama über die Identitätsfindung einer Frau im Körper eines Mannes, sondern vor allem ein Film über die Liebe. Dolan sieht sein Werk gar als "Hommage an die ultimative Liebesgeschichte: voller Ambitionen, unmöglich, eine Liebe, die spektakulär und grenzenlos sein soll. Die Liebe, von der wir nicht zu träumen wagen, die Liebe, die nur im Kino, in Büchern und in der Kunst vorkommt."