Der sechste Fall für das Quartett aus Dortmund ist in doppelter Hinsicht eine Premiere: Es ist die erste "Tatort"-Produktion überhaupt von Hans W. Geißendörfer, der ja neben seiner "Lindenstraße" auch regelmäßig Spielfilme produziert, selber aber nur noch selten Regie führt. Die Drehbücher zu den ersten fünf Filmen stammten allesamt von Jürgen Werner, einem der fleißigsten Autoren hierzulande, der gerade bei seinen Krimis zumeist hochklassige Arbeit abliefert. Die Geschichte zu "Schwerelos" hat sich Ben Braeunlich ausgedacht; es ist sein erstes verfilmtes Langfilmprojekt.
Der personelle Wechsel ist dem Film anzumerken, aber nicht in negativer Hinsicht, im Gegenteil. Die Charaktereigenschaften der vier Hauptfiguren hat Braeunlich natürlich beibehalten, doch sie sind nicht mehr ganz so dominant; Faber (Jörg Hartmann) zum Beispiel, der seine tiefe Verletztheit bislang stets hinter betont ruppigem Auftreten verbarg, gibt sich diesmal ganz handzahm. Tatsächlich findet er gerade deshalb schließlich die Lösung zu dem tödlichen Absturz eines Fallschirmspringers, der von Unbekannten nachts mehr tot als lebendig vor der Notaufnahme eines Krankenhauses abgeladen wird. Er gehörte zu einer Gruppe so genannter Base-Jumper, die nicht aus Flugzeugen, sondern von Klippen oder hohen Gebäuden springen. Faber entdeckt in einer stillgelegten Hochofenanlage den manipulierten Fallschirm des Mannes, und prompt fällt der Verdacht auf die weiteren Mitglieder der Clique.
Zu den Merkmalen des "Tatort" aus Dortmund gehörte bislang stets auch die persönliche Ebene der Ermittler. Anfangs war es Faber, der den mysteriösen Tod von Frau und Tochter verarbeiten musste, dann rückte die Beziehung zwischen den beiden jüngeren Mitgliedern des Quartetts, Nora Dalay und Daniel Kossik (Aylin Tezel, Stefan Konarske), in den Mittelpunkt. Die junge Kommissarin, als Opfer fremdenfeindlicher Angriffe von Neonazis schon zuletzt im Zentrum ("Hydra"), verliebt sich diesmal ausgerechnet in einen der Verdächtigen, einen Springlehrer (Albrecht Schuch), mit dem sie sich auf ein in jeder Beziehung waghalsiges Abenteuer einlässt; Kollege Kossik findet das gar nicht gut. Auch Kommissarin Bönisch (Anna Schudt) ist durch den Wind: Ihr 15jähriger Sohn ist verschwunden. Faber kümmert sich derweil mit vorbildlicher Fürsorglichkeit um das Kind des Opfers.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Trotz all’ dieser Befindlichkeiten ist "Schwerelos" inhaltlich ein alles andere als ungewöhnlicher Krimi. Auch die Umsetzung ist scheinbar unspektakulär, aber das täuscht. Züli Aladag hat für den WDR schon einige herausragende Fernsehfilme gedreht, darunter auch das unter anderem mit Grimme-Preis ausgezeichnete Drama "Wut" sowie zuletzt "Die Fahnderin". Seine Arbeiten zeichnen sich regelmäßig durch eine besonders sorgfältige Führung der Schauspieler aus. Davon profitieren hier in erster Linie Konarske und Tezel, deren Auftritte in den früheren Filmen schon mal nach Kinderkrimi aussahen. Sehenswert ist "Schwerelos" aber auch wegen der beeindruckend variablen Bildgestaltung durch den noch relativ unerfahrenen Yoshi Heimrath ("Schreie der Vergessenen"). Den farbentsättigten Einstellungen ist immer wieder anzusehen, dass sich Aladag und sein Kameramann viele Gedanken über die Auflösung gemacht haben. Mehrfach schraubt sich die Kamera in die Höhe, um die körperliche und seelische Falltiefe zu verdeutlichen; Menschen mit Höhenangst dürfte einige Male recht mulmig werden. Nicht minder herausragend ist die elektronische Musik, die sich - von zwei Clubszenen abgesehen - nie in den Vordergrund spielt, aber fast ständig auf oft sparsame Weise präsent ist. Dadurch gelingt es Komponist Karim Sebastian Elias, die Bilder subtil mit Spannung aufzuladen; und natürlich verfehlt es seine Wirkung nicht, wenn die Musik in wichtigen Szenen schweigt.