Manchmal genügt ein Satz, um zu verstehen, warum es auch heute noch wichtig ist, Filme über die Zeit des Nationalsozialismus zu drehen. In diesem Film lautet dieser Satz "Systeme fressen Menschen, deshalb muss man sich als Mensch wehren." "Wunderkinder" spielt in der Ukraine. Der Mann, der den Satz sagt, hilft erst einer deutschen Familie, die sich vor seinen ukrainischen Landsleuten versteckt; und später zwei jüdischen Familien, die vor den Nazis fliehen. Der Mann, er heißt Alexi, spielt ansonsten keine große Rolle in der Geschichte, und doch ist er eine Schlüsselfigur, deren Menschlichkeit Michael Brandner mit wunderbar lakonischer Beiläufigkeit verkörpert.
Gegenentwurf zu Alexi ist SS-Standartenführer Schwartow, und weil die Geschichte aus Kindersicht erzählt wird, merkt eins der Kinder ganz richtig an, wie komisch sich das doch anhöre: Standartenführer. Aber dieser Mann ist alles andere als komisch, selbst wenn er sich zunächst leutselig und jovial gibt. Auch Schwartow sagt einen Schlüsselsatz: Er bedauert, "dass die Rassenlehre nicht vor der Kultur halt macht." Weil der SS-Offizier von Konstantin Wecker verkörpert wird, ist er automatisch sympathisch; ein perfider Besetzungstrick. Später wird Schwartow mit der gleichen Hingabe, mit der er sich über Musik auslässt, von den neuen mobilen Vergasungswagen schwärmen. Aber da findet man ihn ohnehin schon längst nicht mehr so nett wie am Anfang.
"Man hört nur mit dem Herzen gut"
Die Haltung des Films ließe sich frei nach Antoine de Saint-Exupéry so umschreiben: "Man hört nur mit dem Herzen gut." Das mag naiv klingen, aber unbefangen wäre das richtigere Wort: weil die Kinder nichts wissen von der Politik. Weil sie nicht verstehen, warum jemand über Nacht zum Feind wird; oder was so schlimm daran sein soll, dass einer eine andere Religion hat. Deshalb werden die Eltern in dieser Geschichte auch immer wieder mit Fragen konfrontiert, die sie nicht beantworten können. Es gäbe ohnehin keine Antworten, die vernünftig genug wären, um von den Kindern akzeptiert zu werden.
Aber das ist die erwachsene Sicht auf den Film. Für junge Zuschauer hat "Wunderkinder" eine ganz andere Handlung: Abrascha und Larissa sind ein herausragendes Duo, er an der Geige, sie am Klavier. Als der wohlhabende Deutsche Max Reich (Kai Wiesinger), der in der Ukraine eine Brauerei betreibt, mit guten Worten und noch mehr Geld erreicht, dass seine ebenfalls talentierte Tochter am Musikunterricht der beiden teilnehmen darf, reagieren sie erst mal reserviert, aber dann werden alle drei dicke Freunde; bis Hitler den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion bricht. Familie Reich muss sich vor den Ukrainern verstecken, erst in der Brauerei, dann in einer Hütte im Wald. Bald darauf rückt die Wehrmacht an. Nun versteckt Reich die jüdischen Familien der beiden Kinder: erst in der Brauerei, dann in der Hütte. Aber Schwartows Schergen erwarten sie schon.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Zehn Jahre lang hat Marcus O. Rosenmüller nach seinem ersten Spielfilm "Der tote Taucher im Wald" nur noch fürs Fernsehen gearbeitet und dabei einige beachtliche Thriller gedreht. Mit "Wunderkinder" erzählt er eine großartige Geschichte darüber, wie Kinder Grenzen überwinden. In der Schlusssequenz, als Abrascha und Larissa buchstäblich um ihr Leben spielen, setzt Rosenmüller seine ganze Thriller-Erfahrung ein. Natürlich spielt die Musik nicht nur in dieser Szene eine entscheidende Rolle. Die Kompositionen für den Film stammen von Martin Stock (die Filmmusik ist bei Colosseum erschienen), doch der muss sich die Bewunderung mit Elin Kolev teilen: Der 14jährige Zwickauer ist nicht nur ein hochbegabter Geiger, er macht seine Sache auch als Schauspieler bemerkenswert gut. Imogen Burrell, auch sie Musikerin, ist gleichfalls herausragend. Die jüngere Mathilda Adamik (als Hanna) hat dagegen einige Male Probleme, ihre Dialogsätze flüssig und natürlich klingen zu lassen. Davon abgesehen aber hat Rosenmüller die Kinder ungemein gut geführt. Das gilt auch für erwachsene Darsteller wie Catherine Flemming oder Gudrun Landgrebe, vor allem jedoch für John Friedmann, der mit wenigen Auftritten als SS-Mann einen beängstigend guten Eindruck macht. Man ist fast versucht, ihm eine große Karriere vorherzusagen, dabei hat er die schon hinter sich: Er war der Erkan aus dem Comedy-Duo Erkan und Stefan.