Wenn ein Krimi von absonderlichen Gestalten nur so wimmelt, kann man ziemlich sicher davon ausgehen, dass der gesuchte Mörder ganz woanders zu suchen ist. Das ist bei Ralph Huettners Beitrag zur ZDF-Reihe "Kommissarin Lucas" nicht anders. Die Geschichte ist recht überschaubar: Ein Teenager ist beim Sturz von einer Brücke zu Tode gekommen. Es gibt Spuren einer körperlichen Auseinandersetzung, aber trotzdem kann Suizid nicht ausgeschlossen werden. Weil sich die Eltern des Mädchens kurz zuvor einer Gemeinschaft von Aussteigern angeschlossen haben, muss sich Ellen Lucas (Ulrike Kriener) mit allerlei Menschen befassen, deren Lebensentwürfe kaum mit dem Rest der Gesellschaft kompatibel sind.
Vordergründig mag nicht viel passieren, aber atmosphärisch ist der Film durchaus reizvoll. Da sich die Handlung zu großen Teilen im Wald zuträgt, muss sich die Regensburger Kommissarin in einer Welt bewegen, in der sie sich überhaupt nicht auskennt. Wer von einem Krimi Spannung, Verfolgungsjagden und Action erwartet, wird daher enttäuscht sein. Aber wenn man sich auf die Figuren und ihre Psyche einlässt, hat "Der Wald" Einiges zu bieten. Lucas zum Beispiel erlebt eine regelrechte Daseinsverschiebung. Zu Beginn ist sie ausgesprochen unleidlich: Ihr Auto ist verschwunden, in der Wohnung verbreiten Handwerker Unruhe, und dann muss sie sich schon wieder an eine neue junge Kollegin gewöhnen (Jördis Richter hat Anna Brüggemann ersetzt). Als sie im Forst unfreiwillig in einer Grube landet, kommt sie zwangsläufig zur Ruhe und hat ein bemerkenswertes Naturerlebnis. Huettner (Buch und Regie) relativiert diese Erfahrung später zwar wieder, doch das ändert nichts an der Erhabenheit des Augenblicks.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Aber nicht nur der Schauplatz, auch das Personal des Films ist ungewöhnlich: Ein Vater hat die Bauernhofgemeinschaft wieder verlassen, weil sich seine Frau in den Wortführer der Gruppe verliebt hat. Nun lebt er mit seinen beiden Töchtern in einem provisorischen Unterschlupf irgendwo im Gebüsch; eigentlich will er aber nach Kanada. König des Waldes ist jedoch ein geistig zurückgebliebener junger Mann (Karl Alexander Seidel), der viel mehr weiß, als er mitzuteilen in der Lage ist. Dass der Förster nicht so ahnungslos ist, wie er tut, ahnt man ohnehin, sonst hätten die Verantwortlichen nicht Maximilian Brückner engagieren müssen. Auch die weiteren Rollen sind interessant besetzt, etwa mit Emma Bading, die kürzlich im neuen Berliner "Tatort" als "Muli" zu sehen war; sie spielt eine der beiden Töchter. Suzan Anbeh schmückt den Film als Mutter der Mädchen, Wolfgang Maria Bauer ist der kräftig esoterisch angehauchte Wortführer der Aussteiger.
Außerdem hat Huettner sein Drehbuch um eine Fülle an Details angereichert, die nur mittelbar mit der Handlung zu tun haben, aber dafür sorgen, dass sich die Überschaubarkeit auf die Krimihandlung beschränkt; tatsächlich ist der Film hintergründig deutlich komplexer. Das gilt auch für das zwischenmenschliche Miteinander im Revier, wo sich Jördis Richter, eine der vielen begabten jungen Schauspielerinnen, die sich zunächst in einem ZDF-Sonntagsfilm beweisen durften ("Inga Lindström: Die zweite Chance"), gut in das außerdem aus Michael Roll und Lasse Myhr bestehende Team einfügt.