Meistens ärgert man sich weniger darüber, dass ein Film eine Botschaft hat, sondern über die ungeschickte Verpackung: weil sie einem um die Ohren gehauen wird. Natürlich wissen Autoren das auch, aber entweder ist es ihnen egal oder sie können nicht anders. Nicht nur aus diesem Grund ist "Der andere Junge" ein ganz besonderer Film. Das düstere Drama von Lothar Kurzawa (Buch) und Volker Einrauch (Regie) steht für all das, was öffentlich-rechtliches Fernsehen gerade im Gegensatz zur kommerziellen Konkurrenz auszeichnet: eine unbequeme Handlung und eine auf jede Effekthascherei verzichtende Inszenierung; die darstellerischen Leistungen sind zudem herausragend.
Ähnlich konsequent ist allerdings auch die Freudlosigkeit: Schon die ersten Einstellungen machen deutlich, dass dies kein heimeliger Fernsehabend wird. Trotz Sonnenscheins verströmen die Bilder (Bernd Meiners) eine unangenehme Kälte. Die Ereignisse tun ein Übriges: Zwei befreundete Elternpaare, die sich regelmäßig zum Kartenspiel treffen, haben nicht die leiseste Ahnung, dass zwischen ihren Söhnen Todfeindschaft herrscht. Der 16jährige Robert Morell (Willi Gerk) ist recht klein für sein Alter und daher immer wieder Opfer der Hänseleien seiner Mitschüler. Am meisten tut sich dabei Paul Wagner (Tim Oliver Schultz) hervor, ein hübscher Junge eigentlich, hinter dessen Charme aber der pure Sadismus lauert. Eines Tages taucht Paul bei Robert mit einer Pistole auf, die er seinem Vater geklaut hat. Er drückt dem Kleineren die Waffe in die Hand und provoziert ihn so lange, bis der tatsächlich abdrückt. Anstatt die Polizei zu rufen, lässt Roberts Vater die Leiche verschwinden – und setzt damit eine Handlungskette in Gang, die schließlich ein weiteres Menschenleben kosten wird.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Besetzung der beiden Elternpaare ist exquisit: Pauls Eltern werden verkörpert von Peter Lohmeyer und Andrea Sawatzki, ihr Lebensgefährte Christian Berkel und Barbara Auer spielen das andere Paar. Ohne ins Klischee zu verfallen, genügen dem Film wenige Aspekte, um die Ehen zu charakterisieren. Die Morells wirken leicht verklemmt, auch wenn der knallrot geschminkte Mund von Mutter vielleicht etwas anderes signalisieren soll. Die sinnenfrohen Wagners hingegen erfreuen sich eines offenbar lustvollen Sexuallebens und frönen dem Alkohol; vor allem Vater Jakob. Er steht auch für die Lehren, die man aus dem Film ziehen kann: Als es Winnie Morell mit einem einfachen Trick gelingt, den Verdacht des ermittelnden Kommissars (Hinnerk Schönemann) auf einen Dealer (Adrian Topol) zu lenken, zieht Jakob los, um Selbstjustiz zu üben. Er ist offenbar Sportschütze und hat gleich mehrere Waffen zuhause. Wäre das verboten, hätte es in dieser Geschichte keinen einzigen Toten gegeben.
Bei allem Respekt vor der Leistung des prominenten Quartetts: Geradezu unheimlich gut sind die beiden Jungs. Selbst wenn Schultz recht früh aus der Handlung ausscheidet, hinterlässt gerade der Kontrast zwischen Aussehen und Auftreten einen tiefen Eindruck, zumal Kurzawa Erklärungen für sein Verhalten schuldig bleibt. Ähnlich intensiv ist die Leistung von Willi Gerk als Opfer, das zum Täter wird und dann mit dem Trauma der Tat leben muss.