Eines vorneweg: Ich bin begeisterter Fußballfan – und begeisterter Christ. Ich habe sogar das Privileg, als einer vor drei Stadionpfarrern in Deutschland arbeiten zu können. In unserer Arena in Frankfurt am Main haben wir 2014 jedes Spiel der Deutschen Nationalmannschaft mit zunehmend mehr Menschen, großer Leidenschaft und einem tollen Rahmenprogramm auf einer 450m² großen Leinwand verfolgt. Auch einen Ökumenischen Gottesdienst haben wir im Stadion gefeiert, mit einer 4.000köpfigen Gemeinde vor dem Spiel gegen Ghana. Zum Endspiel war das Stadion ausverkauft. 50.000 Menschen fieberten und freuten sich mit. Die Atmosphäre war einzigartig. Ein unvergesslicher Sommerspaß.
In sieben Jahren nun soll die WM im Wüstenstaat Katar ausgetragen werden. Dass es im Sommer dort bis zu 50 Grad heiß wird, konnten die FIFA-Funktionäre vor ihrem Zuschlag wissen. Und auch, dass Fußball unter diesen Bedingungen für Spieler und Zuschauer unerträglich ist. Insofern war bereits die Vergabe dieser WM mehr als fragwürdig. Dazu kommt, dass die Schreckensmeldungen nicht abreißen. Berichte über sklavenartige Arbeitsverhältnisse und eine Fülle von Todesopfern beim Bau der Stadien lässt diese WM immer mehr zu einem skandalumwitterten Projekt werden.
Bewusstes Leben in Rhythmen
Zu all dem kommt jetzt noch die Entscheidung des Exekutivkomitees des Fußball-Weltverbandes, die Spiele im Winter auszutragen. Da bei der FIFA Geld offenbar keine Rolle spielt, werden die Einwände der Vereine gegen die Freistellung von Nationalspielern mitten in der Saison und die mit der Aussetzung des Spielbetriebes verbundene Unterbeschäftigung aller anderen Spieler mit Millionenbeträgen zum Verstummen gebracht. Diese Fülle an fehlender Sensibilität von Seiten der FIFA zwingt mich nun immer mehr in das Nachdenken, wie ich mich zu den geplanten Adventsspielen in Katar verhalten soll - als Mensch, als Kirchenmann und als Fußballfan?
Als Mensch sind mir Rhythmen und Gezeiten wichtig. Ich lebe mit ihnen. Am Meer genieße ich das Auf- und Ablaufen des Wassers, Ebbe und Flut. Durch das Jahr erfreuen mich die Jahreszeiten. Jede von ihnen hat ihren eigenen Reiz. Als Kirchenmann werde ich in diesem Wahrnehmen durch einen klugen Grundsatz gestärkt, der mir in einem Weisheitsbuch der Bibel begegnet. Kohelet, der Prediger, sagt: "Alles hat seine Zeit" (Prediger 3, 1ff). Und er zählt dann eine Fülle von Gegensatzpaaren auf zwischen dem Geborenwerden und Sterben: "Zeit zu umarmen und Zeit, das Umarmen zu meiden; Zeit zu suchen und Zeit verloren zu geben, Zeit zu bewahren und Zeit wegzuwerfen" – Alles hat seine Zeit.
Mir selbst ist ein bewusstes Leben in solchen Rhythmen wichtig. Wichtiger jedenfalls als der Fußballspielplan. Im Sommer, mit seinen vielen Möglichkeiten, sich an langen Tagen im Freien zu treffen und zu spielen, hat der Fußball bei mir seine Zeit. Im Advent nicht. Denn der Advent hat für mich mit Stillem und nicht mit Schrillem zu tun. Zum Advent gehört für mich, Dunkelheit und Mangel wahrzunehmen und mich daran freuen zu können, wie sich langsam Licht vermehrt. Das steht in krassem Widerspruch zum gleisenden Flutlicht in den Stadien.
Advent 2022: Fußball steht im Abseits
Ich warte im Advent und lebe in der Erwartung auf das Kommen Gottes. Dazu gehört für mich eine Verlangsamung des Lebens, nicht die dramatische Beschleunigung in der k.o.-Runde. Überhaupt entwickele ich ein ganz anderes Zeitgefühl. Nicht der Blick auf die Uhr ist wichtig, nicht die Frage nach Abpfiff oder Nachspielzeit, sondern der Tagesrhythmus des Adventskalenders, die Entwicklung der Blüte am Barbarazweig, die von Woche zu Woche zunehmende Zahl der Kerzen am Adventskranz. Ich brauche im Advent keine Fangesänge, sondern Weihnachtsmusik. Ich brauche im Advent keine Fouls und Platzverweise. Ich möchte Plätzchen backen und Umarmen.
Darum wird der Fußball im Advent 2022 bei mir im Abseits stehen. Sollten viele andere diese Haltung teilen und dem Fußball die Gefolgschaft verweigern, hat die WM in Katar auf Abseits gespielt. Vielleicht werden dann selbst bislang uneinsichtige FIFA-Funktionäre zu der Einsicht gelangen, dass man mit Geld nicht alles kaufen kann.