Hauptfigur ist allerdings nicht die jugendliche Mörderin Luca, sondern ihre Mutter. Anders als zuvor Thomas Stillers in seinem atmosphärisch ganz ähnlich angelegten Jugenddrama "Sie hat es verdient" sucht Goette (Buch und Regie) nicht nach einem Motiv, sondern nach der Antwort auf eine Frage, die für die Angehörigen von Täterin und Opfer ähnlich existenziell ist: Gibt es ein Leben nach der Tat? Die Morde stehen daher ganz bewusst nicht im Zentrum der Handlung. Sie werden ohnehin erst im Verlauf der Handlung nachgereicht, und selbst dann nur im Rahmen eines Gerichtsgutachtens. Goette interessiert sich vielmehr für die Stille nach dem Schuss und die Menschen, die mit den Konsequenzen leben müssen.
Der Themenkomplex Kinder und Gewalt zieht sich wie ein roter Faden durch die Filmografie der Regisseurin. Schon ihre erste Dokumentation ("Ohne Bewährung", 1998) war das Psychogramm einer jugendlichen Mörderin. "Die Kinder sind tot" (2003) dokumentiert den Fall einer Mutter, die ihre Kinder verdursten ließ. Auch in ihren Spielfilmen ("Unter dem Eis", 2003; "Tatort: Der glückliche Tod", 2008, "Keine Angst", 2009) werden Kinder mit dem Sterben konfrontiert. Herausragend sind dabei immer wieder die Leistungen der Darsteller, deren Spiel von Goette so lange reduziert wird, bis kaum merkliche Nuancen enorme Wirkung entfalten.
Sprachlosigkeit zwischen den Generationen
Margarita Broich, die in ihrer Laufbahn schon viele schwierige Figuren verkörpert hat, verschwindet als Mutter zuweilen fast in den Bildern; und ist gerade deshalb in den richtigen Momenten von einer ungeheuren Präsenz. Bestes Beispiel ist der Fund des Tagebuchs, in dem sich Luca über die Erbärmlichkeit ihrer Mutter auslässt; eine ausgesprochen heikle Szene, die Broich mit Bravour meistert. Ähnlich gut spielt Rainer Bock. Vordergründig wird die Figur des Vaters auf die Frage reduziert, wie er ungeschoren aus der Sache rauskommt, denn die Tatwaffe war sein Jagdgewehr; er muss mit einem Verfahren wegen fahrlässiger Tötung rechnen. Mit seinem reduzierten und dennoch andeutungsreichen Spiel vermittelt Bock, dass die äußere Gefasstheit bloß Fassade ist.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Beinahe beängstigend, wie die junge Frau in einer Einstellung mit minimaler Mimik von einem Moment auf den anderen auf eisige Kälte umschaltet. Neben weiteren bemerkenswerten darstellerischen Leistungen (unter anderem Isolda Dychauk als Tochter eines der beiden Opfer) zeichnet sich "Ein Jahr nach morgen" durch eine ungemein stimmige, sehr akzentuiert eingesetzte Musik (Annette Focks) und eine herausragende Bildgestaltung aus; Kamerafrau Sonja Rom findet berührende Bilder für die Einsamkeit aller Figuren. Ein bedrückender, alles andere als leicht zu konsumierender Film über die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen.