Ärztin Helen Liebermann (Petra Schmidt-Schaller) gibt keine Ruhe: Auf dem Weg zur Arbeit hat sie in den frühen Morgenstunden auf einer einsamen Landstraße einen jungen Mann überfahren. Sie wird zwar vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen, womit der Fall für die Staatsanwaltschaft erledigt ist, aber ihr selbst lässt der Vorfall keine Ruhe: Sie will wissen, warum sich der betrunkene Jugendliche nach einem verlorenen Handballspiel in einer nebligen Winternacht ohne Jacke und Schuhe weit weg von der nächsten Ortschaft auf der Straße rumgetrieben hat.
Natürlich ähneln die Nachforschungen der Ärztin, die um der Wahrheit willen sogar ihren Job riskiert, von außen betrachtet der üblichen Polizeiarbeit, weshalb der Film zwangsläufig Züge eines Krimis trägt. Der Unterschied liegt im Motiv: Die Tatsache, dass sie juristisch gesehen nicht schuldig ist, befreit Helen nicht von ihren Schuldgefühlen. Ihre Rekonstruktion der letzten Stunden des jungen Mannes sind also auch eine Form von Sühne. Im Verlauf ihrer Recherchen findet die Ärztin heraus, dass sie nicht die einzige ist, die schwer an ihrer Last trägt. Die Geschichte verdankt ihren besonderen Reiz nicht zuletzt dem Umstand, dass ausgerechnet die Frau, die den Jungen überfahren hat, den Menschen aus seiner direkten Umgebung Trost zusprechen kann: seine Eltern (Ann-Kathrin Kramer, Peter Benedict) machen sich ebenso große Vorwürfe wie sein Trainer (Martin Lindow) und sein bester Freund (Jannik Schümann).
Stairway to Heaven
Autorin Esser und Regisseurin Franziska Meletzky schildern die Handlung konsequent aus Sicht ihrer Hauptfigur. Deshalb lernt man beispielsweise die Eltern des Jungen auch erst näher kennen, als Helen den Kontakt zu ihnen sucht; bis dahin zeigt die Kamera sie nur aus der Distanz. Die Bildgestaltung (Bella Halben) ist ohnehin von großer Sorgfalt geprägt. Allein die nächtlichen Nebelbilder sind eindrucksvoll. Als die Ärztin die Trauerfeier besucht, sieht man nie den gesamten Innenraum der Kirche, sondern bloß jenen Ausschnitt, den Helen durch eine Seitentür wahrnimmt. Zum Abschluss der Feier erklingt das bei solchen Anlässen beliebte "Stairway to Heaven" von Led Zeppelin. Komponistin Susan DiBona wird die Melodie von nun an immer wieder kaum hörbar in ihre sanfte und sparsam eingesetzte Filmmusik integrieren; auch das ist ein Beleg dafür, wie sehr "Die kalte Wahrheit" als Gesamtkunstwerk konzipiert worden ist.
Film weckt große Anteilnahme
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).