Es gibt zwei Schlüsselsätze in dieser mit viel Feingefühl erzählten Geschichte, in der sich zwei Menschen den Schatten der Vergangenheit stellen müssen. "Ins richtige Leben" ist das Motto der Maturafeier einer Wiener Abschlussklasse; und "auf dünnem Eis" wähnt sich ein Mann, der sich in eine Frau verliebt und damit hadert, dass eine unsichtbare Wand die beiden trennt. Schon die ersten Bilder verdeutlichen, dass "Am Ende des Sommers" kein fröhlicher Film wird; dabei sieht man nur eine Hand, die sich rhythmisch bewegt. Aber diese Hand ist blutig; und nach der Einblendung des Titels zeigt Regisseur Nikolaus Leytner aus große Höhe eine Frau, die wie eine achtlos weggeworfene Puppe in einem Waldstück liegt.
18 Jahre später muss ein junger Mann erkennen, dass er sein Leben lang belogen worden ist: Ben (Thomas Schubert) findet im Papierkorb die Todesanzeige eines Mannes, der den gleichen Nachnamen trägt wie er. Seine Mutter Sylvia (Julia Koschitz) hatte ihm stets erzählt, ihre Eltern seien längst verstorben; nun wird ihm klar, dass sie ihm 18 Jahre lang einen Großvater vorenthalten hat. Die ganze Wahrheit ist allerdings noch viel düsterer: Ben ist in der Gewissheit aufgewachsen, ein Kind der Liebe zu sein, gezeugt während eines perfekten Moments mit einer Zufallsbekanntschaft beim Urlaub in Florenz. Nun stellt sich raus: Sylvia wurde als sechzehnjähriges Mädchen vergewaltigt und ist dabei schwanger geworden. Ihr Vater hat ihr die Vergewaltigung nicht geglaubt und wollte sie zur Abtreibung zwingen. Also hat sie sich von ihrer Familie losgesagt, ist nach Wien gezogen und hat ihren Sohn allein groß gezogen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Allein dieser Teil der Geschichte wäre schon erschütternd und bewegend, aber Grimme-Preisträger Leytner ("Ein halbes Leben"), hierzulande vor allem durch seine Filme mit Christiane Hörbiger bekannt geworden (unter anderem "Der Besuch der alten Dame"), konzentriert sich fortan auf den Sohn, der in den Bruchstücken seines zertrümmerten Lebensfundaments eine neue Basis finden will; und das geht seiner Überzeugung nach nur, wenn er seinen Vater aufsucht. Der filmisch kaum erfahrene Thomas Schubert spielt das unfreiwillig forcierte Erwachsenwerden des jungen Mannes ganz famos und jederzeit glaubwürdig. Gleiches gilt für Alina Fritsch als seine Freundin Hanna; beide sind echte Entdeckungen für den deutschsprachigen Film. Julia Koschitz wiederum, die vor allem von Johannes Fabrick immer wieder auf dünnes Eis geschickt wird (zuletzt "Wenn es am schönsten ist" und "Pass gut auf ihn auf!"), verkörpert die zunächst so lebensfrohe und später fragile Sylvia nicht minder eindrucksvoll. Ihre Geschichte erzählen Leytner und Koautorin Agnes Pluch mit Hilfe eines Mannes (Johannes Zeiler), in den sich Sylvia verliebt; seine sanfte Hartnäckigkeit hat großen Anteil daran, dass sie endlich aufhört, die Vergangenheit zu verdrängen.