Schon allein die Idee, die Sage des Rattenfängers von Hameln als Inspiration für einen Thriller zu nutzen, ist großartig. Noch besser aber ist die Ausschmückung, die sich die mehrfach preisgekrönte Autorin Annette Hess ("Weissensee") und ihre Schwester Christiane ausgedacht haben: Mitunter hat ihre Geschichte zwar Anflüge eines Horrorfilms, aber im Grunde erzählt "Die Toten von Hameln" ein erschütterndes Drama.
Johanna muss sich ihren Dämonen stellen
Der Film beginnt mit der Fahrt eines Mädchenchors in die niedersächsische Stadt, in der einst der Sage nach ein Rattenfänger viele Kinder in den Tod gelockt hat, als ihm die Honoratioren den gerechten Lohn für seine Beendigung der Nagerplage schuldig blieben. Für Chorleiterin Johanna Bischoff (Julia Koschitz) ist es bei aller Freude auf das Wiedersehen mit ihrem Vater (Matthias Habich) eine Rückkehr mit gemischten Gefühlen: Sie ist in Hameln aufgewachsen und leidet unter einem nie aufgeklärten Trauma. Prompt wird sie in der vertrauten Umgebung in Gestalt eines blutüberströmten Mannes buchstäblich von einem Geist der Vergangenheit heimgesucht. Als während eines Ausflugs mehrere Mädchen offenbar in just jener Höhle verschwinden, in die der Rattenfänger angeblich einst die Kinder geführt hat, muss sich Johanna endlich ihren Dämonen stellen.
Für Annette Hess ("Die Frau vom Checkpoint Charlie") mag das auf den ersten Blick ein ausgesprochen ungewöhnlicher Stoff sein, aber es ist selbstredend kein Zufall, das die Mädchen beim Besuch der Kirche auf eine Gedenktafel aufmerksam werden: Sie erinnert an jene halbwüchsigen Jungs, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs als Kindersoldaten den Rest des Vaterlands verteidigen sollten; und tatsächlich muss Johanna schließlich erkennen, dass ihr Dämon Repräsentant einer alten Familienschuld ist.
Natürlich hat es sich Regisseur Christian von Castelberg nicht nehmen lassen, die Spannung mit Hilfe einiger Thriller-Elemente auszukosten. Das gilt vor allem für Johannas Halluzinationen, die durchaus für den einen oder anderen Schockeffekt sorgen. Trotzdem hält sich der Nervenkitzel im Rahmen; niemand muss befürchten, nach dem Film nicht schlafen zu können. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass "Die Toten von Hameln" an den Mystery-Spielfilm "Picknick am Valentinstag" erinnert, mit dem vor knapp vierzig Jahren die internationale Karriere des Australiers Peter Weir begann.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Geschichte beschränkt sich allerdings anders als bei Weir keineswegs auf die Suche nach den Mädchen. Als Drehbucheinfall mag es nicht sonderlich originell klingen, dass Johanna auf ihre Jugendliebe Jan trifft, aber die zwangsläufige Zusammenarbeit bereichert die Handlung um zusätzliche emotionale Irritationen: Jan, von Bjarne Mädel angenehm lakonisch verkörpert, ist mittlerweile Leiter der örtlichen Polizei. Johanna wiederum ist in den Organisten (Hannes Wegener) des Chors verliebt; er hat sich als erster auf die Suche nach den Mädchen gemacht, ist aber nicht zurückgekehrt. Eine besondere Rolle spielt auch Matthias Habich als früherer Oberbürgermeister der Stadt, der ein düsteres Geheimnis hütet. Musik (Ralf Wienrich) und Bildgestaltung (Eeva Fleig) tragen ebenfalls ihren Teil dazu bei, dass "Die Toten von Hameln" nach einer gewissen Anlaufzeit immer spannender wird.