Wie ein Tiefflieger rast das schwarze Geschoss auf der frühmorgendlich leeren Autobahn heran. Die junge Frau, ohnehin emotional aufgewühlt, ist so schockiert über den Boliden, der mit Affenzahn und lautstarker Lichthupe in ihrem Rückspiegel auftaucht, dass sie das Lenkrad verreißt. Ihr Kleinwagen gerät von der Straße ab. Die Frau stirbt, ihr kleiner Sohn wird lebensgefährlich verletzt; der Todesfahrer sucht das Weite.
Kein Interesse an Negativschlagzeilen
Der Einstieg ist authentisch. Autor Stefan Dähnert ließ sich durch ein ganz ähnliches Ereignis inspirieren, das hier allerdings nur Auftakt zu einer verzwickten Geschichte ist, in der Dähnerts Drehbuch geschickt zwei Ebenen miteinander verknüpft. Im Zentrum der Handlung steht Marlies Heidorn (Silke Bodenbender). Die junge Versicherungsmathematikerin genießt dank ihrer peniblen Recherchen einen Ruf als Spezialistin für Versicherungsbetrug.
Auch der Autobahnunfall scheint in diese Schublade zu fallen: Die Tote hatte kurz zuvor bei der "Kölner Leben" eine Risikolebensversicherung abgeschlossen und galt als suizidgefährdet; der Fall ist vom Tisch, bevor er überhaupt einer werden kann. Trotzdem nagt ein Zweifel an der jungen Frau, die gerade dabei ist, selbst Mutter zu werden. Als sie herausfindet, dass hinter dem Unfall offenbar ein so genannter Erlkönig steckt, der Prototyp eines neuen Modells, das im Morgengrauen mit über 300 km/h getestet worden ist, lässt sie nicht locker; sehr zum Unmut des Autokonzerns DAW, der an Negativschlagzeilen verständlicherweise kein Interesse hat. Spätestens jetzt kommt die zweite Ebene zum Tragen: Gatte Ulli (Felix Eitner), ein Anwalt, hat gerade seinen Job verloren. Marlies ist somit nicht nur Ernährerin der Familie; von ihrem Gehalt wird auch der gemeinsame Hausbau finanziert. Ausgerechnet ihr väterlicher Chef (Henry Hübchen) fällt ihr nun in den Rücken: DAW ist Großkunde der "Kölner Leben".
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Nach dem packenden Autobahnauftakt fährt Regisseur Urs Egger die Spannung zwar drastisch runter, doch die Geschichte gewinnt dafür inhaltlich an Brisanz. Nicht zuletzt dank der trefflich besetzten Nebendarsteller ist der Film ohnehin enorm sehenswert. Neben Hübchen setzen auch Axel Milberg (als Produktentwickler), Michael Brandner (als Autobahnpolizist) und vor allem Dirk Borchardt als PS-fixierter Chef der Testfahrertruppe starke Akzente. Herausragend aber ist Silke Bodenbender, die in dieser nicht zuletzt hormonell bedingten Achterbahn der Gefühle eine keineswegs strahlende Heldin spielt, gerade deshalb jederzeit überzeugt und dem Film ihren Stempel aufdrückt. Davon abgesehen ist Dähnerts Drehbuch natürlich ein grimmiger Kommentar zu den Missständen auf Deutschlands Autobahnen. Hier herrscht Krieg, stellt der Polizist fest, und resümiert ebenso treffend wie trocken: "Alles Irre".