Wenn Birgit John von ihrer Pfarrerin erzählen soll, weiß sie nicht, wo sie anfangen soll. Bei der Fahrradtour über die Elbe zur Nachbargemeinde, als ihnen die Hafenarbeiter nachpfiffen, weil die Pastorin im Minirock radelte? Bei den abenteuerlichen Turmbesteigungen, um das Werk der Kirchenuhr nachzustellen, John und die Pastorin in 25 Meter Höhe? Beim Rothenburgsorter Elbbadetag, als beide trotz des kühlen Hamburger Augustwindes unerschrocken in den Fluss stiegen und badeten? Oder dass sie endlich wieder zur Kirche gehen mag? "Es ist einfach so, seit Frau Blum da ist, macht Kirche wieder Spaß", sagt die 63-jährige John, die lächeln muss, sobald sie an all die Erlebnisse denkt.
Birgit John, eine waschechte Hamburgerin, die als Kind in der Elbe bei Moorburg noch das Schwimmen lernte und oft einen Ölfilm um den Hals davon trug, wohnt in Hamburg-Rothenburgsort und die Beziehung zwischen ihr und ihrer Pfarrerin hat mit diesem Stadtteil zu tun. Denn das Arbeiterviertel nahe der Elbe mit seinen schmucklosen Nachkriegsbauten, Gewerbegebieten und Bahngleisen, wo es nur Discounter zum Einkaufen gibt, hatte über Jahre keine feste Pfarrstelle. Bis zu dem Tag vor zwei Jahren. An einem trüben Januarsonntag hielt Pastorin Cornelia Blum ihren ersten Gottesdienst in der Gemeinde, Birgit John war das erste Mal seit langem wieder mit Freunden in der St. Thomas-Kirche an der Hauptstraße. Es war wohl so, dass der Funke gleich übersprang. "Vielleicht, weil sie so eine Ausstrahlung hat. Manchmal ein bisschen, als ob sie dein bester Kumpel ist. Wir waren hellauf begeistert", erinnert sich John.
"Ich bin mit offenen Armen empfangen worden"
Die Gemeinde ist mit rund 1800 Mitgliedern klein, wie der Stadtteil, der zu den ärmsten der Hansestadt gehört. Nur knapp 9000 Menschen leben dort, die Hälfe von ihnen mit Migrationshintergrund. Doch es gibt eine rege Nachbarschaft und eine fitte Stadtteilinitiative namens "Hamburgs wilder Osten", die sich einmischt und jährlich Elbbadetage organisiert. Die Pfarrstelle der evangelischen Kirchengemeinde aber war vier Jahre lang vakant, acht Jahre gab es nur eine halbe Stelle. Birgit John, die durch Zufall in das Viertel neben den Elbbrücken gezogen war, kam mit dem alten Pastor nicht zurecht. Sie entdeckte die Flussschifferkirche, die nah bei in einer Bucht lag, und deren tollen Pfarrer. Doch dieser starb und die Flussschifferkirche wurde in den modernen Cityhafen verlegt.
Birgit John ließ sich nicht entmutigen. "In der St. Thomas-Kirche wurde die Gemeindearbeit mittlerweile von Vertretungspastoren gemacht. Viele junge, viele sehr nette waren dabei", meint sie, "doch kaum hatte ich mich an einen Pastor gewöhnt, war er schon wieder weg". Die Kirche war wenig präsent im Stadtteil, bis der Kirchenkreis entschied, die Pfarrstelle wieder voll zu besetzen unter der Bedingung, die Gemeinde des angrenzenden Stadtteils Veddel einzubeziehen.
Auch Cornelia Blum erging es wie den meisten Hamburgern, die ja nur das Äußere von Rothenburgsort sehen können. "Ich erinnere mich noch genau. Es wirkte vor ein paar Jahren so trist hier, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, herzuziehen", sagt die 46-jährige Pastorin, eine Frau mit kurzem Haar und offenem Gesichtsausdruck. "Dieses Urteil muss ich total revidieren und das liegt an den Menschen, die hier wohnen. Ich bin mit offenen Armen empfangen worden", sagt die Pastorin. "Die Rothenburgsorter machen mit, es ist keine mühsame Arbeit, bei der ich ständig etwas anschieben muss. Frau John ist eine von ihnen. Sie kam regelmäßig zum Gottesdienst und irgendwann habe ich sie angesprochen, ob sie Lust hätte, ehrenamtlich mitzuhelfen.“ Mittlerweile kümmert sich Birgit John um die Dekoration in der Kirche und den Schlüsseldienst für den Turm. Ansonsten hilft sie immer da, wo Not an der Frau ist.
Der kleine Stadtteil und die patente Pfarrerin passen gut zusammen. Im Juli gestaltete Blum den Jahrestag des Feuersturms von 1943 mit, für Rothenburgsort ein Schicksalstag, denn der Ort war fast vollständig zerstört worden. Im Sommer radelte man gemeinsam zur Nachbargemeinde und die Kontakte wurden enger. Nicht zuletzt, weil Blum ein offener Mensch ist. "Ich gehe als Pastorin gern in Kontakt mit den Menschen. Und was ich wirklich gut kann, ist Seelsorge bei Sterbefällen", sagt die 46-Jährige, deren Mann, ebenfalls Pastor, mit ihr nach Rothenburgsort zog. Als kurz nach ihrer Ankunft eine Angehörige von Birgit John starb, stand die Pastorin der Familie bei. "Frau Blum macht eine gute Seelsorge, das habe ich am eigenen Leib erlebt", sagt Birgit John.
Abendmusik vom Kirchturm
Und dann kam die Sache mit der kaputten Turmuhr. Weil das Uhrwerk aus dem Takt geraten und es zu teuer war, einen Fachmann anreisen zu lassen, organisierte die praktisch denkende Pastorin ein Team, das in 25 Metern Höhe das Werk richtete - die Anweisungen gab der Uhrmacher per Telefon durch. Wenn Birgt John an die Kletterei denkt, muss sie heute noch lachen. Sie freut sich, dass die Kirche wieder ein fester Anlaufpunkt im Viertel geworden ist. Ein Projekt allerdings würde sie gern noch anschieben: die Jugendarbeit. "In Rothenburgsort gibt es einen tollen Konfirmandenunterricht. Da müsste sich etwas anschließen, damit die Konfis bei der Stange bleiben", meint sie.
Aber nun zückt sie den Schlüsselbund, denn ihr liebstes Ehrenamt beginnt: der Schlüsseldienst für die Abendmusik. Damit die Kirche mehr wahrgenommen wird, hat die Pastorin Musiker organisiert, die unentgeltlich jeden Freitagabend für eine Viertelstunde auf dem Turm Posaune spielen. Kurz vor sechs Uhr erscheint der Posaunist und steigt mit Birgit John die steilen Stufen hinauf. Als das Glockenläuten aufhört, öffnet John das Fenster und der Musiker beginnt zu spielen. "Englische Abendlieder, so etwas gibt`s in Hamburg nur im Michel", seufzt Birgit John. Sie ist schon ein bisschen stolz auf ihre Gemeinde. Unten auf dem Bürgersteig bleiben Spaziergänger stehen, ein Radfahrer stoppt, alle blicken hoch. Die Kirche in Rothenburgsort macht sich bemerkbar.