Eckehard Ziedrich hat einige richtig gute "Wilsberg"-Drehbücher geschrieben, und auch "Russisches Roulette" ragt aus dem ohnehin überdurchschnittlichen Krimi-Standard der Reihe heraus. Das liegt in erster Linie an der Handlung, die immer wieder überraschende Haken schlägt; vor allem dann, wenn man glaubt, sie durchschaut zu haben. Nicht minder groß ist der Anteil von Regisseur Martin Enlen, einem Krimi-Routinier, der schon für viele Reihen gearbeitet hat, aber nie Fernsehen von der Stange dreht.
Die Ereignisse überschlagen sich
Der besondere Reiz der Geschichte liegt in den Gegensätzen: Im beschaulichen Münsterland vermutet man nun mal nicht, dass die Kriminalität hier ihr organisiertes Unwesen treibt. Trotzdem findet sich Wilsberg (Leonard Lansink) inmitten eines florierenden Menschenhandels wieder, als er auf nächtlicher Straße einer jungen Frau beistehen will. Und dann überschlagen sich die Ereignisse: Die Frau wird überfahren, ein LKW reißt dem Auto des Privatdetektivs (das natürlich seinem Kumpel Ekki gehört) die Tür ab, der Fahrer flüchtet, kommt aber nicht weit. Dem Laderaum des Lasters entsteigen ein halbes Dutzend Frauen, und schließlich bleibt Wilsberg allein zurück: mit einer Leiche, einem demolierten Auto und einem Rucksack voller Geldscheine.
Schon der Auftakt zu "Russisches Roulette" ist derart dynamisch, dass es eine wahre Freude ist (Bildgestaltung: Philipp Timme). Die weitere Umsetzung fällt zwar deutlich ruhiger aus, aber dafür ist die Geschichte umso vielschichtiger. Der größte Spaß dabei: Aus unterschiedlichen Gründen sind sowohl zwei überforderte Ganoven (Josef Heynert, David Bredin) wie auch eine Polizeianwärterin (Laura Louisa Garde) überzeugt, Wilsberg sei der Kopf einer Bande, die Frauen aus Osteuropa in und um Münster zur Prostitution zwingt. Der Mann ist berüchtigt, aber selbst die Gangster wissen nur, dass er seine Verbrechen hinter der Tarnung eines angesehen Bürgers betreibt. Dass die Frauen aus dem LKW in Wilsbergs Antiquariat Zuflucht suchen, erhärtet den Verdacht natürlich. Missverständnisse und Verwechslungen machen ohnehin den großen Reiz des Films aus; unter anderem hält die junge Polizistin ausgerechnet den wieder mal herrlich begriffsstutzigen Overbeck (Roland Jankovsky) für einen Ermittler mit Spezialausbildung, was zu einigen heiteren Dialogen führt. Zum Ausgleich darf er wieder mal den Chuck Norris von Münster geben. Eigentlich schade, dass die junge Frau am Ende gen LKA entschwindet.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Neben den vielen inhaltlichen Überraschungen gibt es auch in der Umsetzung viele liebevoll gemachte kleine Momente, wenn zum Beispiel Fragen nicht verbal, sondern mit einem Schnitt beantwortet werden. Irgendwann aber ist Schluss mit lustig, weil Alex (Ina Paule Klink), als russische Prostituierte verkleidet, in die Gewalt der Gangster gerät. Am Ende kommt es zum angemessenen Finale mit reichlich Todesfällen, wobei sich der Film den Luxus gönnt, das "Showdown" auf der Tonspur stattfinden zu lassen. Aber wie Ziedrich schließlich alle Erzählstränge miteinander verwebt, ist große Klasse; und die Schlusspointe ist die Krönung der Geschichte.