Bei erfolgreich gestarteten neuen Reihen hat es der zweite Teil oft schwer: weil er an den Erwartungen scheitert, die der erste geweckt hat. Um so wichtiger ist es, die Figuren weiterzuentwickeln. "Familiengeheimnisse" ist nach dem ersten "Friesland"-Krimi "Mörderische Gezeiten" (Frühjahr 2014) ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie so etwas im besten Fall aussieht. Die Arbeit an den Charakteren zeigt sich vor allem an Jens Jensen, der im ersten Film nicht gerade der Hellste war und gern mal in Ohnmacht fiel. Mit der Fallsucht ist es im zweiten Fall vorbei, und die kriminalistischen Fähigkeiten des ostfriesischen Streifenpolizisten haben sich deutlich verbessert. Das muss auch so sein, schließlich will Jensen nach dem unfreiwilligen Abtritt des früheren Amtsinhabers in Teil eins neuer Dienststellenleiter werden. Allerdings hat seine Kollegin Süher die gleichen Ambitionen, was dazu führt, dass sie nach der Ermordung eines Mannes munter aneinander vorbei ermitteln.
Schulden begleichen
Während Florian Lukas den kleinen Beamten mit den großen Träumen als sympathisches Landei verkörpert, ist Süher (Sophie Dal) eine ihre Polizistin mit umwerfendem Aussehen, messerscharfer Kombinationsgabe – und einem Vater. In "Mörderische Gezeiten" wurde die dunkle Vergangenheit von Günesh Özlügül (Tayfun Bademsoy) nur angedeutet, nun wird sie erzählt: Als junger Einwanderer, der dringend Geld brauchte, hat sich Günesh vor dreißig Jahren mit seinem Kutter als Drogenkurier verdingt. Irgendwann bot ihm das Schicksal die Chance, auf den Pfad der Tugend zurückzukehren. Er warf die Drogen über Bord, avancierte zum Seehelden und bekam als Dank den Posten des Hafenmeisters von Leer. Aber nun holt ihn die Vergangenheit wieder ein: Zwei Gangster aus Hamburg wollen mit Zins und Zinseszins zurück, was Güneshs mutige Aktion sie damals gekostet hat; und wenn er schon seine Schulden nicht begleichen kann, dann wollen sie ihm wenigstens ans Leben. Selbstredend ist das von Tim Wilde und Michael Schenk mit gelassener Brutalität verkörperte Verbrecherduo hauptverdächtig, als der Sohn eines Biobauern umgebracht wird, denn der junge Mann war Freizeitdealer und die Verbrecher somit seine natürlichen Fressfeinde.
Die Handlung ist nicht gerade spektakulär, aber das ist in diesem Fall egal, weil die Darsteller ihre Figuren ausnahmslos mit viel Leben füllen. Vor und hinter der Kamera waren die gleichen Teams beteiligt wie bei "Mörderische Gezeiten". Weil das Autorenpaar Arne Nolting und Jan Martin Scharf die handelnden Personen noch mehr zugespitzt und das Drehbuch zudem mit der einen oder anderen makabren Note versehen hat, ist die Ähnlichkeit zu den Provinzkrimis des mehrfachen Grimme-Preisträgers Holger Karsten Schmidt ("Mörder auf Amrum") noch größer als beim ersten Film. Lukas und Dal sind ohnehin ein interessantes Darstellerpaar, und da Theresa Underberg als Hobby-Forensikerin nicht mehr ganz so kulleräugig agiert, macht es großen Spaß, den Schauspielern zuzuschauen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das gilt nicht minder für Felix Vörtler als überheblicher "Großstadtkommissar" aus Wilhelmshaven, der auch diesen Mordfall wieder an sich ziehen will, aber gegen die beiden Provinzpolizisten ständig den Kürzeren zieht. Dass die Autoren dem Mann auch noch Erektionsprobleme angedichtet haben, ist allerdings zuviel des Guten. Abgerundet wird der familientaugliche Krimi durch die Inszenierung Dominic Müllers, der gemeinsam mit Kameramann Simon Schmejkal eine angemessene Bildsprache gefunden hat. Die Bilder sind unaufdringlich in stetem Fluss, und gelegentlich kippende Kameraachsen sorgen dafür, dass "Familiengeheimnisse" auch optisch vermittelt, wie sehr so ein Mord die heile Kleinstadtwelt erschüttert.