Kein Teenager wie jeder andere

Foto: HR/AVE/Janett Kartelmeyer
Kein Teenager wie jeder andere
Raymond Ley hat für sein großartiges Dokudrama "Meine Tochter Anne Frank" neue Perspektiven und eine tolle Hauptdarstellerin gefunden (ARD, 18.2., 20.15 Uhr).

Die weltberühmte Geschichte von Anne Frank ist dank eines Bühnenstücks, diverser Spielfilme und verschiedener Dokumentationen derart hinlänglich bekannt, dass eine weitere Verfilmung eigentlich unnötig erscheint; sieht man mal von der überraschenden Tatsache ab, dass die Initiativen zu den bisherigen Adaptionen des in siebzig Sprachen übersetzten Tagebuchs nie von deutschen Produzenten ausgegangen sind.

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Auch das Drehbuch von Hannah und Raymond Ley kann die Geschichte des Mädchens naturgemäß nicht neu erfinden, schildert sie aber aus einem ungewohnten Blickwinkel: Anne Frank bleibt selbstverständlich Erzählerin und somit zentrale Figur der Handlung, doch ihr Vater, der Titel deutet es an, nimmt ungleich mehr Raum ein als in den anderen Filmen. Auf diese Weise kann auch das Nachkriegsgeschehen berücksichtigt werden, denn Otto Frank, eindrücklich und mit viel Sympathie von Götz Schubert verkörpert, ist der einzige aus der Familie, der das Vernichtungslager überlebt hat.

Die eigentliche Spielhandlung beginnt mit Franks Rückkehr aus Auschwitz nach Amsterdam im August 1945. Er besucht das Versteck, das sich die Franks über zwei Jahre lang mit vier weiteren Personen geteilt haben, und erinnert sich, wie seine lebhafte Tochter ihr Zimmer umgehend mit Fotos von Filmstars dekoriert hatte. Mit einem einfachen, aber brillanten Effekt sorgt Ley dafür, dass die beiden Zeitebenen miteinander verschmelzen: Vater Frank steht vor der Wand, tritt einen Schritt zurück, seine Tochter kommt ins Bild und klebt die Fotos auf eine Glaswand vor der Kamera; einen ähnlichen Effekt hat Henri-Georges Clouzot 1955 in seinem Dokumentarfilm über Picasso erzielt, als er den Künstler auf transparentes Material malen ließ und ihn so quasi durch die Leinwand filmen konnte. Dieser Metaebene bedient sich der Film immer wieder, wenn Anne beispielsweise auf ihrem Bett sitzt und die Wände ringsherum zu Projektionsfläche etwa für Wochenschaubilder werden.

Raymond Ley gehört dank seiner Dokudramen wie "Die Nacht der großen Flut", "Eichmanns Ende", "Die Kinder von Blankenese" oder zuletzt "Eine mörderische Entscheidung" zu einem der wichtigsten filmischen Chronisten der jüngeren und älteren deutschen Zeitgeschichte. Verquickung von Spielszenen und zeitgenössischem Material: Das können andere auch. In vergleichbaren Dokumentationen sind die Spielszenen jedoch meist die große Schwachstelle, weil die Dokumentaristen keine Ahnung von Darstellerführung haben oder nicht wollen, dass allzu namhafte Schauspieler das Thema überlagern. Bei Ley dagegen sind die Szenen im Versteck dank Darstellern wie André Hennicke oder Harald Schrott weit mehr als bloß eine Illustration der Tagebucheintragungen.

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All das macht "Meine Tochter Anne Frank" zu einem wichtigen und herausragenden Film. Zum Fernsehereignis aber wird das Werk durch die Hauptdarstellerin: Die praktisch unbekannte Mala Emde, vor Jahren für die Frankfurter "Krimi.de"-Beiträge des HR entdeckt und zur Zeit des Anne-Frank-Castings Abiturientin, gibt der jungen Frau ein Gesicht, das gleichzeitig bekannt wirkt und doch aufregend neu ist. Die ebenso markanten wie attraktiven Gesichtszüge passen perfekt zu einem selbstbewussten Teenager, der seinem Alter weit voraus ist und aufgrund seiner Schlagfertigkeit immer wieder Krach mit den Erwachsenen kriegt; sogar mit dem verehrten Vater. Neben seiner politischen Relevanz macht gerade dies das Tagebuch und somit auch den Filmstoff zeitlos: Anne ist sicher kein Mädchen wie jedes andere; aber jedes Mädchen kann es nachvollziehen, wenn sie von ihren Problemen mit ihrer Mutter oder von der ersten Liebe berichtet.

Abgerundet wird das Dokudrama durch Interviews mit Menschen, die Anne kannten, die meisten Schulfreundinnen. Da die Spielszenen größtenteils der Zeit im Versteck gelten, wirkt ein Ausflug ins Jahr 1962 wie ein Exkurs: Ein Journalist (Axel Milberg) besucht den Mann, der Anne und die anderen 1944 verhaftet hat; auf diese Weise kann Ley die Perspektive wechseln und die Verhaftung aus Sicht dieses Polizisten zeigen. Der Film ist kurzweilig; die neunzig Minuten verfliegen im Nu. Trotzdem ist "Meine Tochter Anne Frank" letztlich ein tieftrauriger Film.