Die Premiere des unkonventionellen "Hafenpastors" von St. Pauli (2012) verdeutlichte bereits das große Potenzial des Stoffes: wegen des von Jan Fedder gewohnt kernig verkörperten Titelhelden, aber vor allem natürlich wegen des Schauplatzes. Kirche und Kiez: eine spannende Mischung. Einige der durchaus reizvollen Figuren aus dem Reihenauftakt wirken im zweiten Film nicht mehr mit; dabei ist gerade die Geschichte zwischen dem protestantischen Pfarrer und seiner Tochter noch nicht zu Ende erzählt. Hinter der Kamera hat sich dagegen nichts geändert: Das Drehbuch zu "Der Hafenpastor und das graue Kind" stammt erneut von Stefan Wild, Regie führte Stephan Meyer, Produzent war Markus Trebitsch.
Schnöde Realität
Offenbar war das Trio der Meinung, dass eine junge Frau den größtmöglichen Kontrast zum in die Jahre gekommenen Pastor darstellt, weshalb sie Stefan Book diesmal mit gleich zweien konfrontieren: zum einen seine neue Vikarin (Anna Brüggemann), die überhaupt keine Lust auf "Alkoholiker und Obdachlose" hat und in der Kirchengemeinde ohnehin am liebsten alles ändern würde; zum anderen die 16jährige Paloma (Gro Swantje Kohlhof), die zur zweiten zentralen Figur neben Pastor Stefan Book wird. Das Mädchen ist ausgerechnet während eines vom Pastor beaufsichtigten Konfirmandenausflugs schwanger geworden. Aus Sicht des Jugendamts handelt es sich um ein "graues Kind". Die Großmutter Alkoholikerin, die Mutter minderjährig und Schulabbrecherin: Aus Sicht der Behörde ist absehbar, dass das Baby keine erquickliche Zukunft haben wird. Also gründet Book kurzerhand eine Familie und zieht gemeinsam mit seiner Freundin (Margarita Broich) sowie Paloma und ihrem gleichfalls minderjährigen Kindsvater Winni (Anh-Quoc Doan) in die Wohnung der im Sterben liegenden Rosi (Ingrid van Bergen), einer früheren Prostituierten und Kiez-Ikone. Leider scheitert die schöne Idee der Drei-Generationen-Wohngemeinschaft an der schnöden Realität.
Wie schon im ersten Film, so ergänzen Wild und Meyer den Hauptstrang auch diesmal um mehrere Nebenschauplätze. Allerdings gelingt die Verknüpfung nicht mehr ganz so flüssig wie bei der Premiere, weshalb "Der Hafenpastor und das graue Kind" recht episodisch wirkt. Die Zweitgeschichten sind zwar schlüssig und originell, laufen aber eine ganze Weile nebenher, ehe die Handlungsstränge zum erst dramatischen und dann versöhnlichen Ende miteinander verknüpft werden: Auf Vermittlung von Nachtclubbesitzer Bodo (Uwe Bohm) verkauft Paloma ihr Baby an Menschenhändler; zwar bereut sie die Tat umgehend, doch es scheint zu spät, um den Deal rückgängig zu machen.
Dank der mitunter recht herzhaft geführten Auseinandersetzungen hat der Film zwar komische Züge, doch die Konflikte sind durchaus dramatisch und dank einer glaubwürdigen Besetzung auch bewegend, zumal die Figuren angenehm wenig klischeehaft sind. Zuhälter Bodo zum Beispiel überrascht mit einer Petition, die seinen von der Schließung bedrohten Nachtclub zum kulturellen Erbe erklärt. Besonders anrührend ist der Nebenstrang mit Books lebensmüdem Faktotum Eddi (Tim Grobe), der am Ende seiner vermeintlichen Mutter Rosi dabei hilft, endlich in Frieden sterben zu können.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dass als Filmmusik dazu "Stairway to Heaven" von Led Zeppelin erklingt, kann man abgeschmackt finden, aber der Song passt in diesem Moment einfach gut. Marie Lou Sellem ist als Kiezpolizistin und Books Schwester ebenfalls wieder mit von der Partie, und auch Anna Brüggemann sollte dem Ensemble unbedingt erhalten bleiben, zumal auf die Vikarin viel Arbeit zukommt: Book erfährt, dass seine Tage gezählt sind.