Der Bursche ist mittlerweile auch schon über fünfzig, doch das sieht man ihm natürlich nicht an: Der kleine Nick wird immer ein Junge bleiben. Aber es ist schon seltsam, dass es so lange gedauert hat, bis René Goscinnys wundervolle Geschichten verfilmt worden sind. Vermutlich hat sich einfach niemand getraut; "Le petit Nicolas" gehört in Frankreich zum Kulturgut. Außerdem ist es naturgemäß immer riskant, Comicfiguren zum Leben zu erwecken. Sieht man den Film, erweist sich die Furcht jedoch als völlig unbegründet, denn Regisseur Laurent Tirard ist eine kongeniale Umsetzung gelungen.
Typische Kindheitsprobleme
Ähnlich wie bei den Abenteuern von Asterix und Obelix, die Goscinny gemeinsam mit dem Zeichner Albert Uderzo geschaffen hat, wirkt der Charme der Geschichten vom kleinen Nick bei jungen wie bei alten Lesern. Das gilt auch für den Film. Die Handlung mag Ende der Fünfzigerjahre angesiedelt sein, aber die typischen Kindheitsprobleme sind die gleichen geblieben: Ärger mit den Eltern, Ärger mit der Schule. Und selbstredend die Furcht, angesichts eines Brüderchens plötzlich nur noch Nummer zwei zu sein. Von der ersten Liebe ganz zu schweigen. Für Eltern wiederum stellen die Erlebnisse von Nick eine Rückkehr in die Kindheit dar. Die Konflikte werden zwar aus Kindersicht geschildert, aber man erlebt natürlich auch die Perspektive der Erwachsenen.
Deshalb war die Besetzung der Eltern fast noch entscheidender als die Suche nach einem geeigneten Hauptdarsteller. Der ist natürlich auch wichtig, zumal Nick als Erzähler durch die Handlung führt, aber die Doppelbödigkeit entsteht nur, weil Valérie Lemercier und Kad Merad so großartig mitspielen. Merad, Hauptdarsteller aus "Willkommen bei den Sch’tis", ist als Nicks Vater die perfekte Besetzung; spätestens für eine ganz ohne Dialog funktionierende Szene, in der der Vater den schmollenden Jungen durch allerlei Schabernack beim Essen zum Lachen bringt, brauchte Tirard einen gestandenen Komiker. Valérie Lemercier ist ihm nicht nur eine ebenbürtige Partnerin, sie hat auch die schwierigere Rolle, denn in den Büchern taucht die Mutter immer nur als Klischeefigur auf. Tirard hat die Rolle mit einem Hauch Verrücktheit versehen, was Lemercier großartig umsetzt.
Die größte Herausforderung aber dürfte darin bestanden haben, aus den Büchern (auf deutsch bei Diogenes) eine lineare Geschichte zu extrahieren. Tatsächlich wird die Handlung anfangs episodisch erzählt. Nick (Maxime Godart) führt zunächst die Figuren ein, allen voran natürlich seine Mitschüler. Da der Film zu großen Teilen in der Schule spielt, war naturgemäß auch die Besetzung der Lehrerin wichtig; Sandrine Kiberlain versieht die Rolle mit dem gleichen Charme wie ihre Titelfigur in "Mademoiselle Chambon". Dann aber nimmt die Geschichte Konturen an: Mitschüler Joachim bekommt einen kleinen Bruder. Aus verschiedenen untrüglichen Zeichen schließt Nick, dass seine Mutter ebenfalls ein Baby erwartet. Als die Eltern einen Ausflug in den Wald vorschlagen, fürchtet er, ähnlich wie im Märchen vom kleinen Däumling ausgesetzt zu werden. Seine Freunde wissen Rat: Man könnte einen Ganoven engagieren, der das Problem für Nick aus der Welt schafft. Natürlich müsste der Gangster das nicht umsonst tun. Die Methoden, mit deren Hilfe sie das nötige Geld besorgen wollen, sind allerdings recht abenteuerlich.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Mit großartigem Gespür für die feine Balance zwischen erwachsener Freude an Ironie und kindlicher Begeisterung für schräge Figuren gelingt es Tirard, die Zeichnungen von Jean-Jacques Sempé zum Leben zu erwecken. Ausstattung und Kostüme sind zudem von so viel Liebe zum Detail geprägt, dass an diesem Film einfach alles stimmt. Eine wunderschöne Komödie für die ganze Familie.