Vater und Mutter ehren – was heißt das?

Mutter und Tochter
© Getty Images/iStockphoto/PeopleImages
Im vierten Gebot geht es um das Verhalten Erwachsener gegenüber den alten Eltern.
Zehn Gebote: Das vierte Gebot
Vater und Mutter ehren – was heißt das?
Zu Weihnachten planen die meisten Menschen Familienbesuche. Das macht nicht nur Spaß – vor allem älter werdende Eltern können auch anstrengend für ihre Kinder sein. Eins der Zehn Gebote lautet: "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren..." Eduard Kopp sieht darin eine Chance zum Glaubensbekenntnis – gerade im Advent.

Es gibt viele Gebote in der Bibel, aber nicht viele, die so bekannt sind wie dieses: "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird." Es ist das vierte der Zehn Gebote (je nach Zählung ist es auch das fünfte) und steht im 2. Buch Mose im Kapitel 20. Ein Gebot, also eine moralische Vorschrift, die auf den Punkt genau zu passen scheint auf eine alternde Gesellschaft wie unsere heute in Deutschland.

###mehr-artikel###

Jahrhunderte wurde dieses vierte Gebot kleinen und größeren Kindern eingeschärft, die es am nötigen Respekt gegenüber ihren Eltern mangeln ließen. Deshalb klingt dieses Gebot immer noch ein bisschen nach schwarzer Pädagogik, pädagogischer Nörgelei, nach Zuckerbrot und Peitsche. Doch dem ursprünglichen Sinn nach ist es keine Forderung, die den Eltern von Minderjährigen das Leben erleichtern soll. Das Anliegen reicht viel weiter. Es geht um den Zusammenhalt der jüdischen – und heute christlichen – Gesellschaft. Die Zehn Gebote erhielt Mose, so erzählt es die Bibel, von Gott, als das Volk Israel, zunächst nichts anderes als eine Ansammlung umherziehender Nomadenfamilien, auf dem Weg ins "Gelobte Land" waren, um dort sesshaft zu werden.

Heute steht die Fürsorge im Zentrum

Diese Zehn Gebote wurden zum moralischen Grundkonsens eines Volkes, das nicht mehr brauchte als ein paar wenige, aber sehr klare Normen: die Konzentrationen auf einen einzigen Gott, den Verzicht auf Mord, Diebstahl und Ehebruch, auf Lug und Trug, – und, als positive Norm, die Sorge um den Zusammenhalt der Familien. Deshalb geht es in diesem vierten Gebot auch nicht nur um das Verhalten von Kindern, sondern auch der Erwachsenen gegenüber den alten Eltern.

Es ist das einzige der zehn Gebote, bei dem Gott einen Lohn in Aussicht stellt. Ein langes Leben als Belohnung dafür, dass man seine eigenen Eltern versorgt – warum das? Versteht sich das Gebot nicht von selbst? Diese "Belohnung" malt eigentlich nur aus, was die erfreuliche Folge solcher Ehre und Fürsorge für die Alten ist: Auch man selbst wird eines Tages als alter Mensch in Genuss dieser Zuwendung und Fürsorge kommen. Aber nur dann, wenn alle dieses Gebot beherzigen.

Aber was ist mit dem Begriff der "Ehre" gemeint? Das Wort hat heute eine ganz andere Bedeutung als in den Stammesgesellschaften vor 3.000 Jahren. Ging es damals auch um die Einfügung in die Familienhierarchie, um die Anerkennung patriarchaler Strukturen, um Respekt gegenüber dem Vater als familiären Gesetzgeber, steht heute die liebevolle Fürsorge für die Eltern im Zentrum.

Maß nehmen an der Nähe Gottes zu den Menschen

Demgegenüber hat der Begriff der Ehre in Deutschland eine lange Abwärtskarriere erlebt. Massiv brach das Verständnis für ihn nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus ein ("Blut und Ehre"), danach ging es erneut mit der Studentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre abwärts. Heute befremdet oder verwundert es viele Menschen, wenn zum Beispiel muslimische Familien ihre auf sexuelle Selbstbestimmung pochenden jungen Frauen mit Gewalt zurück in den Familienschoß zwingen wollen – um so die "Familienehre" zu retten. Von solchen Vorstellungen ist eine moderne Auslegung des Vierten Gebots weit entfernt.

Ist Ehre überhaupt ein religiöses Wort? Unbedingt, wenn auch nicht im Sinne einer rigiden Standesehre. In der Weihnachtsgeschichte singen die von der Geburt Jesu begeisterten Engel "Ehre sei Gott in der Höhe." Die Ehre Gottes ist Dreh- und Angelpunkt des Glaubens, sie verändert auch die Menschen und ihre Zusammenleben von Grund auf. Diese Ehre ist hoch aktuell: Es ist ein liebendes Band zwischen Menschen, die füreinander Sorge tragen und dabei Maß nehmen an der Nähe Gottes zu den Menschen, wie sie in der Weihnachtsgeschichte zum Ausdruck kommt.

Nach christlichem Verständnis hat jeder Mensch seine Ehre und Würde von Gott. Wie Gottes Sohn sich vor allem den sozial benachteiligten und politisch verfolgten Menschen zuwendete, so gilt auch für das Verhalten der Menschen untereinander: Den Geringsten ist ein besonderes Maß an Ehre zu erweisen. Solche Ehre ist von der gesellschaftlichen Stellung des Menschen völlig unabhängig. Sie wurzelt im jüdisch-christlichen Glauben darin, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist: von ihm erschaffen, von ihm weiterhin wahrgenommen und geliebt. So erklärt sich auch der hintersinnige Satz aus dem 1. Korintherbrief: "Aber Gott hat [...] dem dürftigen Glied am meisten Ehre gegeben" (12,24). Die Eltern zu ehren ist also immer auch ein kleines Glaubensbekenntnis.