Zum festen Repertoire romantischer Komödien gehört unter anderem die Lüge, auf der eine Beziehung basiert; kommt schließlich die Wahrheit ans Licht, muss sich zeigen, ob die junge Liebe dieser ersten großen Belastungsprobe gewachsen ist. Im Fall von "Warum ich meinen Boss entführte" ist die Lüge allerdings faustdick, denn die temperamentvolle Anna (Julia Hartmann) jubelt ihrem Ausbeuterchef eine komplett neue Biografie unter. Das funktioniert, weil Max (Stephan Luca) sein Gedächtnis verloren hat. Bis dahin hat arrogante Hamburger Designermöbelhersteller keinen Hehl aus seiner Verachtung für Frauen gemacht, denen es nicht gelingt, Job und Familie unter einen Hut zu bringen. Anna, alleinerziehende Mutter von zweijährigen Zwillingen ohne Kitaplatz, muss sich regelrecht zerreißen, um die Kleinfamilie über Wasser zu halten; ohne die Hilfe ihrer besten Freundin und Nachbarin Molly (Anja Nejarri) wäre sie komplett aufgeschmissen. Als Max nach einem Unfall völlig desorientiert ist, erklärt sie ihn kurzerhand zum Vater ihrer Kinder, der sich um den Haushalt kümmert, während sie die Familie ernährt. Und siehe da: Der Waschzwangschnösel wandelt sich nicht nur zu einem musterhaften Hausmann, der Ordnung in Annas Chaos aus "Kakao und Kinderkacke" bringt, er entdeckt auch seine vermeintlich vergessenen Gefühle für sie; bis eines Tages ihr Ex-Mann vor der Tür steht.
Liebenswert durch Gedächtnisverlust
Die dramaturgische Konstruktion ist alles andere als neu, und das nicht bloß wegen der Lüge; die Idee, einen dissozialen Fiesling mittels Gedächtnisverlust in einen liebenswerten Mann zu verwandeln, wird auch immer wieder gern genommen. Selbst in der Anbahnung der Beziehung bedient sich Autorin Barbara Jago eines Versatzstückes, das schon tausend mal funktioniert hat: Zu Beginn der Geschichte arbeitet Anna als Kellnerin und kippt einem besonders arroganten Gast wütend die Nudeln auf den Schoß. Als sie kurz drauf ein Vorstellungsgespräch hat, entpuppt sich der potenzielle neue Chef selbstredend als der Typ aus dem Lokal. Der Kerl ist allerdings derart blasiert, dass er seine Mitmenschen kaum wahrnimmt und sie daher auch nicht erkennt.
Stephan Luca wird diese Rolle bekannt vorgekommen sein, denn in der Sat.1-Komödie "Großer Mann ganz klein!" (2013) hat er eine ganz ähnliche Figur gespielt: genauso überheblich und genauso zurechtgestutzt, weil er plötzlich auf Däumlingsgröße schrumpft und fortan ausgerechnet jener Frau ausgeliefert ist, der er kurz zuvor gekündigt hat. Auch Anna wird von Max gefeuert, als sie ihm auf dem Weg zum Flughafen gesteht, dass sie beim Vorstellungsgespräch ihre beiden Kinder unterschlagen hat; und dann knallt er bei einer Vollbremsung mit dem Kopf aufs Armaturenbrett.
Es spricht für die Qualität von Buch und Regie, dass "Warum ich meinen Boss entführte" trotz der bekannten Muster großartige Unterhaltung ist. Die Handlung ist sicher nicht komplex, die Figuren sind es dafür um so mehr. Außerdem ergänzen sich die beiden Hauptdarsteller ausgezeichnet. Die Leistung Lucas ist dabei nicht weiter überraschend, weil er solche Rollen immer wieder mit neuen Nuancen versieht, ohne dabei zu dick aufzutragen. Mindestens ebenso sehenswert ist Julia Hartmann, die 2008 ihre erste große Rolle an der Seite Christine Neubauers in dem Mutter/Tochter-Drama "Inseln des Lichts" spielte und zuletzt in der vorzeitig abgesetzten RTL-Serie "Schmidt - Chaos auf Rezept" als Arbeitgeberin des Titelhelden ein Grund zum Einschalten war. Während Luca den ernsten Part verkörpert, ist sie für die komödiantischen Momente zuständig, was ihr wunderbar gelingt.
Julia Hartmanns erfrischend natürliche Attraktivität passt nicht nur zur Rolle, sie wird auch dem männlichen Teil des Publikums gefallen – und daran zeigt sich womöglich der größte Fortschritt, den die Auftragsproduktionen der ARD-Tochter Degeto in diesem Jahr gemacht haben: Früher war man als Mann gut beraten, den Freitagabend im "Ersten" weiträumig zu meiden; mittlerweile haben die Filme eine Qualität, die durchaus mit entsprechenden Hollywoodkomödien mithalten kann. Peter Gersina ist 1998 als Autor von "Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit" bekannt geworden und hat seither neben Folgen für Serien wie "Danni Lowinski" und "Der Lehrer" immer wieder mal ähnlich fröhliche Filme inszeniert, etwa "Im Namen der Braut" (2006); die Komödie verhalf Stephan Luca zum Durchbruch.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
"Warum ich meinen Boss entführte" ist ähnlich kurzweilig und unterhaltsam: weil Gersinas Inszenierung an genau den richtigen Stellen das Tempo verschärft und der Film bei aller Modernität klassisch wirkt. Den Rest besorgen die Gute-Laune-Musik von Andreas Weidinger sowie die Führung der Darsteller. Komödien dieser Art leben ja nicht zuletzt von den Nebenfiguren, die hier nicht nur hübsch entworfen, sondern auch vorzüglich besetzt sind: mit Luc Feit als Max’ Buchhalter und Ludger Pistor als Möbelhersteller, den Anna von einen neuen Konzept überzeugen kann.