Zitate, weil aus dem Zusammenhang gerissen, sind zuweilen tückisch. Übersetzungen gelegentlich auch. Bei diesem Zitat aus dem 3. Buch Mose ist es allerdings anders: "Wenn ein Fremder bei dir – in eurem Land – als Fremder wohnt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Wie ein Bürger unter euch soll der Fremde sein, der bei euch als Fremder wohnt. Du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn Fremde wart ihr im Land Ägypten; ich bin der HERR, euer Gott." (3. Mose 19,33f.)
Die Stelle will durchaus als Plädoyer für ein migrantisches Grundrecht gelesen und verstanden werden. Sie bedient sich dabei einer Argumentation, die aus verschiedenen Gründen überzeugend wirken muss. Ich möchte dieser Argumentation anhand von drei Unterpunkten nachgehen:
1. Alle Menschen sind potentielle Migrant_innen
Israel hat sich eine Geschichte gegeben, die gleich zweifach auf einer migrantischen Existenz gründet. Abraham, Sara, Isaac, Rebekka, Jakob, Rahel, Lea, Joseph, Mose und David erleben und durchleben Lebensphasen, die sie entweder fern der Heimat verbringen oder in denen sie zu neuen Ufern aufbrechen müssen. Den Erzählern ihrer Geschichten kommt es darauf an, ihre Helden und Heldinnen als Migrant_innen darzustellen.
Mit Blick auf die Literaturen der kulturellen Nachbarn Israels ist dieser Befund erstaunlich. Geschichten von Migranten kommen hier weitaus seltener vor. Und wenn, wie bei der zur klassischen Weltliteratur gehörenden Sinuhe-Geschichte, ist diese darauf angelegt, den Helden in die ersehnte Heimat zurückkehren und dort ein angemessenes Begräbnis finden zu lassen.
Die biblische Gestalt des Joseph liefert ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass eine erzwungener Aufenthalt in der ungeliebten Fremde zu einem erfolgreichen Leben geraten kann. Er kommt nach Ägypten als rechtloser Fremder, ihm gelingt eine erste Karriere im Haus des Potiphar. Noch bleibt er ein Ausländer ohne rechtlichen Schutz. Die bloße Behauptung der Frau seines Meisters, er habe sich an ihr sexuell vergreifen wollen, bringt ihn ins Gefängnis. Aber schon wieder geht es mit ihm bergauf. Kaum im Gefängnis angelangt, avanciert er zum stellvertretenden Gefängnisdirektor (1. Mose 39,21-23). Es gibt dafür einen guten Grund: "Der HERR war mit ihm." Das ist der Schlüsselsatz für seinen folgenden Aufstieg an die Spitze des Staates.
Überhaupt: Ägypten. Von Willkür und Knechtschaft, geplanten Genozid und Versklavung ist in der Josephgeschichte, anders als dann später in der Exoduserzählung nicht die Rede. Und das aus gutem Grund. Ägypten soll als lebenswertes Land schmackhaft gemacht werden. Offensichtlich zielt die Geschichte auf eine Gruppe Judäer beziehungsweise Juden, die freiwillig oder gezwungenermaßen in Ägypten lebten. Dabei liefert die Geschichte zwei gewichtige Argumente: So schlimm ist ein Leben in der Fremde nicht, wie der Aufstieg Josephs an die Spitze des Staates zeigt. Das zweite Argument dürfte noch mehr Gewicht haben: Niemand kann sich so weit entfernen, dass der schützende und helfende Arm Gottes ihn nicht doch noch erreichen könnte.
2. Der Gott der Migrant_innen (und aller anderen Menschen)
Im oben zitierten Text aus dem 3. Mose geht es leicht verwirrend zwischen dem "Du" und dem "Euch" hin und her. Das Verwirrspiel hat seinen Grund. Angesprochen ist zunächst ein "Du" – wohl das landbesitzende Familienoberhaupt. Zum "Euch" hat der mittelalterliche jüdische Gelehrte Raschi (1040-1105) eine bemerkenswerte Beobachtung gemacht. Er paraphrasiert: "Ich bin sowohl dein als auch sein Gott." Der Gott Israels ist der Gott der Israeliten wie der Fremden gleichermaßen. Migrant_innen genießen Rechte in Israel: das Recht der Teilhabe an den Festen (5. Mose 16,11.14), das Recht der Arbeitsruhe am Schabbat (5. Mose 5,14) und andere.
Das (Liebes-)Verhältnis zum Fremden ist zweifach konstituiert. Gott liebt die Fremden in der Mitte Israels. Die oben stehende Forme "liebe ihn wie dich selbst" ist im Kapitel schon einmal vorgekommen. Der berühmte Satz "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" steht im 18. Vers dieses Kapitels. Wenn mit dem Nächsten der nahe Nachbar, mit dem Fremden aber der Nachbar aus der Ferne gemeint ist, dann ist eines klar: Es macht keinen Unterschied, ob dein Nachbar schon immer oder erst seit Kurzem Tür an Tür mit dir lebt. Der Gott Israels fordert Liebe ein. Für sich selbst, für den alten und für den neuen Nachbarn.
3. Migration als eine Form des Mensch-Seins vor Gott
Wir wissen aus der Welt des Alten Orients, dass Massendeportationen zu den Instrumenten der Kriegsführung der Großmächte gehört haben. Israel und Juda haben das mehrfach zu spüren bekommen. Es gab auch Gründe, sich freiwillig in die Fremde zu begeben. Mehrfach hören wir, dass klimatische Katastrophen Wanderungen ausgelöst haben. Im Buch Ruth ist dieses Motiv noch mit dem der interkulturellen Solidarität zwischen Frauen verknüpft. Nun gut, ließe sich einwenden, eine migrantische Existenz gehört sicher nicht zu den Kernmerkmalen des Mensch-Seins. Migration mag sich gelegentlich ereignen, zur menschlichen Existenz gehöre sie nur als Ausnahme. Allerdings wären dabei gewichtige Aspekte der Theologie der Hebräischen Bibel übersehen.
Die Geschichte Abrahams (hier noch Abram genannt) und mithin die Geschichte Israels beginnt mit einem Imperativ: "Lech lecha, gehe Du!" (1. Mose 12,1). Es hat schon etwas zu sagen, wenn die Geschichte Gottes mit seinem Volk mit einem Aufruf zur Migration beginnt. Die Hebräische Bibel ist anders aufgebaut als die uns bekannten christlichen Übersetzungen. Sie endet mit dem Zweiten Buch der Chronik. Der persische König dekretiert hier die Erlaubnis für die Nachfahren der nach Babylonien Deportierten, in die Heimat zurückzukehren: "Man möge hinaufziehen!" Man darf diesen Satz durchaus eschatologisch verstehen: Irgendwann wird das Wandern, wird das Leben in der Fremde ein Ende haben. Aber bis dahin…
Die mit Abraham und Sara beginnende Geschichte Israels hat eine Vorgeschichte, die so genannte Urgeschichte. Auch diese kennt die Themen Migration und (als Gegenzug) die Sesshaft-Werdung. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel ist über Jahrhunderte hinweg als Geschichte menschlicher Selbstüberhebung verstanden worden. Ein Turm sollte her, damit die Menschen sich zu Göttern aufschwingen oder gar den Aufstand gegen Gott proben könnten so wird die Geschichte seit Jahrhunderten nahezu einhellig gelesen. Allerdings steht das so nicht im Text.
Zu Recht haben sich in letzter Zeit Stimmen erhoben, die das menschliche Handeln in einem weit freundlicheren Licht sehen wollen. Für unseren Zusammenhang hier muss die Beobachtung genügen, dass das Ziel des Turmbaus darin besteht, eine Art Leuchtturm zu setzen, "damit wir nicht (weiter) auf der ganzen Erde zerstreut werden." (1. Mose 11,4). Daraus ist nichts geworden. Herausgekommen ist ein multikulturelles Sprachengewirr und, als Folge daraus, die große Wanderung der Völker. Offensichtlich sieht Gott die Menschen eher und lieber als Wandernde – und nicht als Abgeschirmte hinter Mauern und Grenzzäunen.