Schon vor gut dreißig Jahren hat Markus Imhoof in seinem Drama "Das Boot ist voll" kräftig mit dem Mythos aufgeräumt, die Schweiz sei während des Zweiten Weltkriegs ein Refugium für jüdische Flüchtlinge gewesen. Die Handlung von "Akte Grüninger" spielt sogar noch einige Jahre früher und zeigt, dass die abweisende Haltung keineswegs erst mit Kriegsbeginn einsetzte. Der Film ist ein Denkmal für jene Eidgenossen, die es für ein Gebot der Menschlichkeit hielten, nicht wegzuschauen. Held des historischen Dramas ist Paul Grüninger, ein Hauptmann der St. Galler Kantonspolizei, der Hunderte von Menschenleben gerettet hat, für seine humanitäre Hilfe aber mit dem Ende der Karriere bezahlen musste. Nach seiner Entlassung 1939 lebte er bis zu seinem Tod 1972 in ärmlichen Verhältnissen; seine Rehabilitierung hat er nicht mehr erlebt.
Humanität
Autor Bernd Lange erzählt Grüningers Geschichte aus Sicht des ehrgeizigen Bundespolizisten Robert Frei, der Gerüchten nachgehen soll, in Grüningers Kanton seien die Grenzen nicht dicht. Max Simonischek verkörpert diesen Beamten als kühle, unnahbare Figur. Ein simpler Trick verstärkt die bedrohliche Aura noch: Die Kamera (Matthias Fleischer) zeigt den ohnehin großen Simonischek stets aus leichter Untersicht, so dass er erst recht hünenhaft und Stefan Kurt in der Rolle des tapferen Grüningers neben ihm fast zerbrechlich wirkt. Der Kantonspolizist hat dem Gegenspieler aus der Hauptstadt nur seine Humanität entgegenzusetzen. In mehreren Gesprächen, die Lange und Regisseur Alain Gsponer nutzen, um die früheren Ereignisse in Form von Rückblenden nachzutragen, legt der Hauptmann dem Kollegen von der Bundespolizei seine Motive dar. Langsam bröckelt Freis ablehnende Haltung; erst recht, als er zwei geflohene Kinder aufgreift, es jedoch nicht übers Herz bringt, sie den Behörden auszuliefern.
Bei allem Respekt für den Mut der Filmemacher zur Nestbeschmutzung: Die Inszenierung ist ein bisschen langweilig. Wirklich sehenswert ist "Akte Grüninger" vor allem wegen Simonischek und Kurt. Alain Gsponer ("Lila, lila", "Der letzte Weynfeldt") ist hierzulande durch "Das wahre Leben" (2006) bekannt geworden; die explosive Familientragikomödie hatte ungleich mehr Biss.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Aus Sicht von Gsponers Landsleuten allerdings ist vermutlich schon das Thema brisant genug, schließlich macht der Film deutlich, dass der Schweizer Bundesrat damals eine "Verjudung" des Landes verhindern wollte; zum Teil, um das Aufkommen von Antisemitismus zu vermeiden, zum Teil aber auch, weil einige Eidgenossen die Ideen der Nazi-Nachbarn gar nicht so schlecht fanden.