Irene Striesow, die Hauptfigur dieses Films von Neele Leana Vollmar, ist so ein Mensch. Gatte Dieter (Oliver Stokowski) hat es daher nicht leicht mit ihr, zumal Irene leicht paranoid ist: Sie hat schreckliche Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Allerdings spielt die Geschichte 1968; angesichts der Fernsehbilder vom gewaltsamen Ende des "Prager Frühlings" kann man ihre Angst durchaus nachvollziehen. Außerdem hatte Irene im Frühjahr 1945 ein traumatisches Erlebnis, als Soldaten der Roten Armee ihren ersten Freund erschossen; dabei war sein Vater der einzige Kommunist im Dorf. Und dann ist sie noch überzeugt, dass Dieter fremdgeht, und als sich das später bestätigt, ist sie beinahe erleichtert: weil ihre Furcht kein Hirngespinst war. Zu allem Überfluss hängt sie an ihrer Vergangenheit fest: Die Familie ist vor einigen Jahren aus der DDR in den Westen gekommen, aber Irene hat immer noch Heimweh.
Heimatlosigkeit
"Friedliche Zeiten" basiert auf Motiven des gleichnamigen Romans von Birgit Vanderbeke. Adaptiert hat ihn Ruth Toma, eine der renommiertesten deutschen Drehbuchautorinnen. Noch vor der Stoffauswahl stand für Vollmar fest, dass sie unbedingt mit Toma zusammenarbeiten wollte: weil sie hierzulande kaum jemanden kenne, "der auf ähnliche Weise in der Lage ist, tragische Themen mit einer derartigen Leichtigkeit zu erzählen." Tatsächlich ist "Friedliche Zeiten" allen Krisen zum Trotz vor allem Komödie, genauso wie "Maria, ihm schmeckt’s nicht", Vollmars Kino-Überraschungserfolg mit Christian Ulmen. Die heitere Geschichte eines Deutschen, dessen Braut die gemeinsame Hochzeit bei der Familie ihres Vaters in Italien feiern will, hatte 1,3 Millionen Zuschauer. Vordergründig mag es inhaltlich kaum Parallelen zwischen den Filmen geben, aber eine gewisse Seelenverwandtschaft der Hauptfiguren ist nicht zu übersehen: Beide sind im Grunde einsam; Vollmar spricht von "Heimatlosigkeit". Schon der Protagonist ihres Langfilmdebüts "Urlaub vom Leben" war ein Mensch, den ein kleiner Schritt aus seinem Alltag heraus fast um seine Wurzeln bringt.
Welche Rolle bei ihrer Arbeit die Liebe zum Detail spielt, zeigen zwei Szenen aus "Friedliche Zeiten", die mit ganz einfachen Mitteln die Routine im Alltag des Ehepaars Striesow auf den Punkt bringen. Erzählt wird die Handlung aus Sicht von Tochter Ute (Nina Monka), die mit feiner Ironie aufspießt, worin sich die leicht paranoide Irene von anderen Müttern unterscheidet. Dazu gehört auch ein offenbar allabendlich geführter Wohnungstürdialog zwischen den Eltern, bei dem es unter anderem um die Türkette geht. Auf subtile Weise verdeutlichen Vollmar und ihr Kameramann Pascal Schmit den rituellen Charakter dieses Vorgangs, indem sie die Szene in mehreren Einstellungen gedreht und jedes Mal die Kleidung gewechselt haben. Später, nachdem Dieter vorübergehend zu einem Freund und Kollegen (eine wunderbare kleine Rolle für Axel Prahl) gezogen ist, setzen Vollmar und Schmit diese Technik ein weiteres Mal ein.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Eine wichtige Rolle spielt natürlich auch die Zeit. Vollmar ist Jahrgang 1978, musste sich bei der Rekonstruktion der späten Sechziger also auf Bücher, Filme, Zeitschriften und Szenenbildnerin Stephanie Schlienz verlassen. Da sich Irenes Sehnsucht nach der DDR natürlich auch in ihrem Heim widerspiegelt, ist die Ausstattung eine fantasievolle Kombination aus stilistischen Einflüssen aus Ost und West. Die Striesows leben hinter ihrer Türkette in ihrer eigenen Welt; die 68er-Studentenunruhen finden nur im Fernsehen statt. Auch die Musik entspricht nicht dem Klischee: Statt der zu erwartenden Beatles überwiegen kaum bekannte Popsongs aus jener Zeit.