Am Anfang ist es bloß ein Seitensprung, begangen in der Euphorie des Augenblicks, am Ende liegt eine Existenz in Trümmern; zumindest in moralischer Hinsicht. Zunächst jedoch wird der frisch beförderte Oberstaatsanwalt Manuel Bacher (Felix Klare) im Rahmen einer Feier vom Vorgesetzten (Felix Vörtler) ausdrücklich dafür gelobt, dass er den Unterschied zwischen Recht und Moral kenne. Seine Kollegin Caroline von Studt (Julia Thurnau) macht die Probe aufs Exempel. Sie schnappt sich Bacher für einen leidenschaftliches, aber seltsam emotionsfreies Vergnügen und setzt ihn dann vor die Tür. In diesem energiegeladenen Zustand aus Verwirrung über die dunkle Seite, die sich ihm plötzlich offenbart hat, und wohl auch aus Wut über den Fehltritt wird der Jurist auf dem Weg zum nächsten Taxistand im Stadtpark Zeuge, wie ein Mann eine junge Frau belästigt. Er schreitet ein und schlägt den Mann mehrfach mit einer Flasche. Am nächsten Tag erfährt er, dass die nächtliche Begegnung ein tödliches Ende genommen hat.
Nothilfe
Schon dieser Entwurf ist faszinierend, weil er den Staatsanwalt geradewegs in ein Dilemma führt. Bacher hat zwar in einem klaren Fall von Nothilfe gehandelt, aber ginge er zur Polizei, müsste er erklären, warum er sich nachts im Park rumgetrieben hat, und damit käme auch der Seitensprung ans Licht; vom völlig übertriebenen Gewaltausbruch ganz zu schweigen. Kein Wunder, dass die Existenz des Juristen angesichts dieses Dilemmas in ihren Grundfesten erschüttert ist, zumal er nie für möglich gehalten hätte, dass er einen Menschen erschlagen könnte. Die Polizei geht allerdings von einem Streit zwischen Rauschgift-Dealern aus. Tatsächlich ist ein junger Mann verhaftet worden, der nachweislich Streit mit dem Opfer hatte; trotzdem wäre die Aussage der jungen Zeugin gleichbedeutend mit dem Ende von Bachers Karriere.
Felix Klare ist eine ausgezeichnete Besetzung für diese Rolle, zumal die meisten Zuschauer ihn vor allem aus seiner Rolle als Stuttgarter "Tatort"-Kommissar kennen werden. Dort, aber auch in Niki Steins Scientology-Drama "Bis nichts mehr bleibt" (2010) hat Klare bewiesen, dass es völlig unangebracht wäre, in ihm bloß den braven Stichwortgeber von Richy Müller zu sehen. Den Staatsanwalt verkörpert er als Menschen, der sich bislang als Handelnden sah, plötzlich aber zum Getriebenen wird. Nach der Tat liegt sein Schicksal in der Hand dreier Frauen: Die Kollegin ahnt, dass Bacher was zu verbergen hat; Gattin Leonie (Lisa Wagner) fürchtet um die gemeinsame Zukunft, zumal sie kurz zuvor erfahren hat, dass sie schwanger ist. Und dann ist da noch Joy (Lili Zahavi), eine Freundin der Zeugin: Sie weiß, was in der Nacht im Park vorgefallen ist, nistet sich bei den Bachers ein und betrachtet sich fortan als Familienmitglied.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Reiz dieser grimmigen Moralparabel von Norbert Ehry (Buch) und Friedemann Fromm (Regie) liegt nicht zuletzt in der fortwährenden Zuspitzung. Der Fehltritt Bachers entpuppt sich im Rückblick als Auslöser einer Kettenreaktion, die am Ende noch ein weiteres sinnloses Opfer fordern wird. Fromm kann es sich sogar leisten, auf die handelsüblichen Spannungsverstärker zu verzichten, das ruhig inszenierte Drama wird auch so zum Thriller: Jedes Mal, wenn Bacher glaubt, er habe seinen Kopf aus der Schlinge gezogen, zieht sich der Strick in Wirklichkeit wieder ein Stückchen mehr zu. Felix Klare verkörpert dieses Wechselbad aus Erleichterung und neuer Verzweiflung mit sparsamen Mitteln, aber gerade deshalb sehr glaubwürdig. Gleiches gilt für Lisa Wagner, zumal sich Leonie unversehens als das stärkere Glied in der Beziehungskette entpuppt. Die Entdeckung des Films aber ist die junge Lili Zahavi, Tochter des Regisseurs Dror Zahavi, in ihrer ersten richtig großen Fernsehfilmrolle: Joy mag zwar ein berechnendes Biest sein, aber im Grunde ist sie auch die tragische Figur dieser Geschichte; und so wird "Momentversagen" immer mehr zu einem Film über die Abgründe, die in uns allen lauern.