Siegerländer sind, zurückhaltend formuliert, recht bodenständige und familiäre Menschen, die an ihrer Scholle kleben. Das muss wohl in den Genen liegen, denn die Nachkommen von dreizehn Siegerländer Familien treffen sich nunmehr seit Jahrzehnten, immer an einem Ort, wo vor 300 Jahren eine Siedlung der Vorfahren stand, Hochöfen und – einige Kilometer weiter – eine reformierte Kirche. Mit Sicherheit gab es nicht weit von dem Siegerländer Zentrum auch Indianer.
Das besagte Siegerländer Zentrum liegt an der Ostküste der Vereinigten Staaten, südwestlich von Washington, in Gegenden, die von einem Fluss mit dem gewaltigen Namen Rappahannock und von idyllisch benamten Gegenden wie dem Shenandoahtal geprägt werden. Die dreizehn Familien stammen aus typischen Siegerländer Dynastien wie den Otterbachs, den Heides, den Brombachs, Fischbachs, nicht zu vergessen den Holzklaus, die 300 Jahre nach ihrer Ankunft Holtzclaw heißen, Brumback, Fishback und Utterback. Sie haben eine angemessene Zahl von Familienmitgliedern zur amerikanischen Prominenz hinzugefügt, Gouverneure, Bürgerkriegshelden, Wissenschaftler. Und ganz viele ganz normale Amerikaner, zusammengeschlossen in der Germanna Foundation, die nahe dem heutigen Culpepper/Virginia die Geschichte der ersten Einwanderer pflegt, ein Informationszentrum betreibt, einem College seinen Namen spendete und ein Zentrum der Hobby- und Profiforscher zum Thema Immigration bildet.
Fachkräfte für den Bergbau gesucht
Wenn man Namen aufzählt, darf man Pastor Häger nicht vergessen. Der ehrwürdige Henrich Häger aus dem auch heute noch kleinen Anzhausen im heute auch nicht viel größeren Wilnsdorf beim auch nicht allzu großen Siegen ist zum Zeitpunkt der Auswanderung der 13 Familien schon 73 Jahre alt.
Er ist damit 50 Jahre älter als die Familienväter, die er begleitet. Der greise Gottesmann hat Überfahrt und Strapazen in der neuen Heimat überlebt – vielleicht mithilfe der Destille, die sich nach seinem Tode in seinem Nachlass findet. Erst mit 93 Jahren, im Jahr 1734 stirbt er.
Henrich Häger muss der spirituelle Mittelpunkt der Gruppe aus 13 Familien gewesen sein, die 1712 im Siegerland von einem schweizerischen Baron für die Dienste in Amerika angeworben wurden. Jener Baron Graffenried, offensichtlich ein Abenteurer, hatte einen kongenialen Geschäftspartner, den virginischen Gouverneur Alexander Spotswood. Jener Spotswood hatte ein hohes Interesse an persönlichem Reichtum, und er wusste von enormen Eisenerzvorräten in den Blue Ridge Mountains, aber er verfügte über niemanden, der diese Schätze zu seinem Nutzen abbauen konnte. Spotswood entsandte Graffenried nach Siegen, wo er die Fachkräfte vermutete, die er so dringend brauchte. Zugleich hatten die Deutschen – was sie offensichtlich nicht wussten – eine weitere Aufgabe: Sie dienten als Puffer zwischen den Engländern weiter im Osten und den Indianern der Umgebung.
Nach der Überfahrt nach England ging den Anwerbern zunächst das Geld aus. Die Siegerländer mussten bei London im Deichbau arbeiten, um zu überleben. Erst Monate später setzten sie dann nach Amerika über, wo sie schließlich ihr Siedlerdorf Germanna errichteten, durch Spotswood benannt nach Germany und der britischen Königin Anna.
"Sie sangen die Psalmen recht gut"
Attraktiv ist für die heutigen Mitglieder der Germanna Foundation, dass von den Auswanderern aus dem Jahr 1714 noch manches im Siegerland erhalten geblieben ist. Da ist das Haus des Auswanderers Johannes Hoffmann in Siegen-Eisern etwa, die Trupbacher Kapellenschule, in der die Otterbachs gebetet hatten, bevor sie auswanderten, oder auch die Siegener Nikolaikirche, Zentrum des reformierten Bekenntnisses im Siegerland, deren Bild heute noch in der Hebron Church in Virginia hängt.
Die Hebron Church im Madison County/Virginia, auch sie ein Erbe der Auswanderer, sieht so aus, als wenn jeden Moment John Boy Walton, gefolgt von seinen Geschwistern, im Sonntagsstaat aus dem Kirchenportal wandeln würde. Das Gebäude ist alt, für US-amerikanische Verhältnisse uralt. Erbaut wurde die Kirche 1740, natürlich mit siegerländer Handwerkstechniken. Noch heute ist hier ein Kelch erhalten, mit dem schon die damaligen Auswanderer ihren Gottesdienst feierten.
Die Hebron Church ist die älteste lutherische Kirche in Amerika, die ununterbrochen genutzt wurde, und eine von vier Holzkirchen aus der Kolonialzeit, die überhaupt noch stehen. Lutherisch wie die Angehörigen der zweiten und dritten, zahlenmäßig viel größeren Einwandererwelle aus der Pfalz, die die siegerländer Siedler um 1720 verstärkte. Das reformierte Bekenntnis der Gründergeneration scheint hier in vielen Eheschließungen über die Generationen verschwunden zu sein. Zumindest bis 1805 wurde der Gottesdienst auf Deutsch gehalten – dann brach über der Sprachenfrage ein Streit aus und ein Teil der Gemeinde zog nach Kentucky, wo sie die "Hopeful Lutheran Church" gründeten.
Pastor Henrich Häger aus Anzhausen hatte keine Gelegenheit mehr, in der Hebron Church zu predigen. Er starb vor ihrem Bau und hinterließ eine Gemeinde, die ihre Christenpflicht anscheinend recht gut versah. Sie beteten an Sonntagen, an freien Tagen schrieb Johann Caspar Stöver in einem Brief nach Deutschland, und der erste Freitag im Monat war ihr Bußtag. Schon ein Besucher der ersten Siedlung hatte sich anerkennend über die religiöse Praxis der Pioniere geäußert: "Sie sangen die Psalmen recht gut." Und sie scheinen recht wehrhaft gewesen zu sein. Einige Jahrzehnte später verfassten sie mit Hilfe eines Geistlichen eine Petition an die englische Krone, mit der sie von der Zahlung des Zehnten an die anglikanische Kirche befreit werden wollten.
Die Nachkommen der Auswanderer haben nicht nur moderne Ideen im Zusammenhang mit ihrem Hobby, wozu auch ein groß angelegtes Genkartierungsprojekt gehört. Sie sind auch ein wenig geschichtsversessen, die sich in der Faszination für Traditionen äußert, und vor allem jene typisch amerikanische Sehnsucht nach Wurzeln, die Alex Haley in seinem Roman "Roots" für die Afroamerikaner beschrieb. Ihre Leidenschaft für Familienforschung teilen sie mit ihren Siegerländer Gegenstücken, mit denen sie schließlich auch Teile des Stammbaums gemeinsam haben. Das geht so weit, dass die älteste Eiche des Siegerlandes jetzt auch Sprößlinge in Übersee hat. Ein Angehöriger der Holtzclaw-Familie nahm sich vom Standort der Bäreneiche im Dörfchen Oberholzklau bei Freudenberg Eicheln mit. Die Pflänzchen haben die Überfahrt bereits seit Längerem hinter sich und stecken in amerikanischer Erde.