Manchmal brauchen Bücher eine Weile, bis man sich reingelesen hat, und mitunter ist das bei Filmen nicht anders. Im Fernsehen hat so etwas in der Regel Folgen: Zuschauer, die sich nicht angesprochen fühlen, schalten umgehend um. Das könnte auch bei "Let’s go!" passieren, denn der Einstieg mit seiner parallelen Erzählweise ist etwas sperrig: Die junge Laura fliegt 1968 von Los Angeles nach München; ihr Vater ist bei einem Autounfall gestorben, ihre Schwester schwer verletzt worden. Die Mutter ist untröstlich, doch das hat andere Gründe, die Michael Verhoeven erst viel, viel später nachreicht. Um eine emotionale Nähe herzustellen, begibt sich Laura gemeinsam mit der Mutter auf eine geistige Reise in ihre Kindheit. Und je mehr Zeit die beiden in der Vergangenheit verbringen, desto deutlicher wird, wie das Leben die Frauen zu den Persönlichkeiten geformt hat, die sie heute sind: Lauras Eltern sind Juden, die im Gegensatz zu vielen anderen Überlebenden des Nazi-Terrors Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verlassen haben.
Kindheitserinnerungen
Michael Verhoeven hat mit "Let’s go!" die Kindheitserinnerungen von Laura Waco ("Von Zuhause wird nichts erzählt") verfilmt. Da die Rückblenden im Verlauf der Handlung die Gegenwart des Jahres 1968 einholen, erzählt das Drama nebenbei auch die Geschichte der jungen Bundesrepublik, allerdings aus der Perspektive eines Mädchens, das zu einer jungen Frau heranwächst. Alice Dwyer ist eine wunderbare Besetzung für die erwachsene Laura, aber auch ihre fünf Stellvertreterinnen in jungen Jahren sind treffend ausgesucht und von Verhoeven großartig geführt. Etwas gewöhnungsbedürftig ist das Jiddisch der Erwachsenen. Die Schauspieler geben sich zwar größte Mühe, aber der Effekt ist ähnlich wie bei einer fremden Mundart: Es mag sich korrekt anhören, doch man spürt, dass es sich nicht um die Muttersprache handelt. Trotzdem ist gerade Maxim Mehmet als Lauras Vater famos, zumal er seinen Majer Stöger glaubhaft über zwei Jahrzehnte hinweg verkörpert. Mehmet hat zudem die facettenreichste Rolle. Majer ist ein im Grunde herzensguter Mensch, an dem die Vergangenheit aber natürlich nicht spurlos vorübergegangen ist: Einerseits kann er liebenswert und witzig sein, andererseits pflegt er die Verfehlungen gerade seiner älteren Tochter mit Schlägen zu bestrafen; mitunter auch mal mit dem Teppichklopfer. Die Rolle von Mutter Hela teilen sich Naomi Kraus (in älteren Jahren) und Katharina Nesytowa (in den früheren Rückblenden), beide ebenfalls ausgezeichnet.
Die eigentliche Erzählung des Film spielt sich jedoch im Hintergrund ab: Emotionaler roter Faden der Geschichte ist Lauras unbewusste Suche nach ihrer Identität. Weil sich die Eltern um beinahe jeden Preis anpassen wollten, wuchs sie nicht als Jüdin auf, fühlte sich in ihrer Umgebung aber trotzdem fremd. Vordergründig geht es zwar um Teenager-Ereignisse wie die erste Liebe (und den ersten Liebeskummer), aber die für dieses Alter typischen Auseinandersetzungen zwischen Kindern und Eltern haben in diesem Fall noch eine andere Dimension: Majer und Hela wittern überall Antisemitismus, Laura hält sie für paranoid.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Weil die Opfer die Vergangenheit ebenso totgeschwiegen haben wie die Täter, hat sie keine Ahnung, was ihre Eltern alles durchgemacht haben; das erfährt sie erst gegen Ende, und nun begreift sie auch, warum ihre Mutter sie als Kind nie in den Arm nehmen konnte. Dem ernsten Thema zum Trotz gibt es immer wieder verblüffend heitere Momente, und der bewegende Epilog klärt schließlich darüber auf, warum "Let’s go!" Majers Lebensmotto geworden ist.