Ein Jahr "Lampedusa": Viele Fragen, wenige Antworten

Illustration: evangelisch.de/Simone Sass
Ein Jahr "Lampedusa": Viele Fragen, wenige Antworten
"Wo ist die Nächstenliebe?", fragten sich fünf evangelisch.de-Redakteure vor einem Jahr, nachdem Hunderte Flüchtlinge vor Lampedusa im Mittelmeer ertrunken waren. Grund genug, zu fragen: Was hat sich getan in diesem Jahr? In Politik und Gemeinden, in den Medien und in den Köpfen der Menschen? Fünf Gedanken zu Fragen, die immer drängender werden.
03.10.2014
evangelisch.de
Hanno Terbuyken, Anne Kampf, Claudius Grigat, Markus Bechtold, Johannes Süßmann

 

Anne Kampf, Redakteurin bei evangelisch.de:

Selten passiert es, dass mich ein Arbeitsthema über den Feierabend hinaus begleitet. Zum Glück kann ich meistens abschalten. Doch beim Thema Flüchtlinge gelingt das nicht mehr. Ich finde, wir können nicht mehr so tun, als gingen uns diese Menschen nichts an. Mich jedenfalls treffen die vielen Geschichten im Innersten, Geschichten von verfolgten Christen, gefolterten Männern, vergewaltigten Frauen, auseinandergerissenen Familien. Menschen in größter Not, die alles zurücklassen mussten und hier bei uns Hilfe suchen.

Ich frage mich: Tue ich genug? Genügt es, wenn wir als Redakteurinnen und Redakteure die Geschichten aufschreiben und verbreiten, wenn wir über das Engagement von Kirchengemeinden berichten und die Appelle aus Politik und Kirchenleitungen veröffentlichen? Das ist nicht viel. Ich würde gern Gesetze ändern, Grenzanlagen niederreißen, sichere Transporte organisieren – all das kann ich natürlich nicht. Aber was dann?

Eine Kollegin hat den Job gewechselt, arbeitet nicht mehr in unserer Bildredaktion, sondern gibt Flüchtlingen Deutschunterricht. Der Evangelische Regionalverband in Frankfurt bildet Menschen zu ehrenamtlichen Flüchtlingsbegleitern aus. Kirchengemeinden bieten Menschen Unterkunft und Hilfe an. Da möchte ich mitmachen und Kontakte zu Flüchtlingen knüpfen, ihnen beim Neustart in unserem Land helfen. Es ist an der Zeit, dass wir Christen aus unserer gemütlichen Gemeinde-Komfortzone aufbrechen und uns persönlich um die Menschen kümmern. Auch wenn das den Feierabend kostet.

 

Claudius Grigat, Redakteur bei evangelisch.de:

"Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken" (Matthäus 11,28)

Die Hoffnung war da, vor einem Jahr, als sich vor allem Politiker aller Couleur vor die Kameras stellten und laut sagten, dass sich "so etwas" nicht wiederholen dürfe. Die Hoffnung, dass sich damit vor allen Dingen ein politisches Klima der Angst und der Abschottung ändern würde – und dass dies schlussendlich zu konkreten Veränderungen in der Flüchtlingspolitik auch hier in Deutschland führen würde. Schließlich fielen diese Ereignisse mitten in eine Phase, in der es hierzulande eine nahezu unwürdige Debatte darum gab, wie viele – und welche - Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien man aufnehmen solle.

Anfang des Jahres wurden dann starke Ressentiments aufgrund der neuen Arbeitsfreizügigkeit für Menschen aus Bulgarien und Rumänien laut. Später feierte die AfD in den Landtagswahlen Erfolge, unter anderem mit einem latent ausländerfeindlichen Wahlkampf. Und gerade erst hat die Asylrechtsreform den Bundesrat passiert, die es künftig möglich macht, Menschen aus den westlichen Balkanstaaten sofort abzuschieben. Zitat Bundesinnenminister Thomas de Maizière dazu: "Deutschland kann nicht alle Mühseligen und Beladenen auf der Welt aufnehmen." Das alles passt in ein Klima, in dem es laut einer aktuellen Emnid-Umfrage 43 Prozent der Deutschen ablehnen, mehr Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien aufzunehmen. Ein Klima von Angst und Abschottung eben. Ein Jahr nach der Katastrophe von Lampedusa leider noch lange kein Klima, das hierzulande nachhaltig Hilfe für "Mühselige und Beladene" garantieren würde.

 

Johannes Süßmann, Volontär bei evangelisch.de und dem Evangelischen Pressedienst (epd):

Kürzlich hatte ich ein kostenloses Anzeigenblättchen im Briefkasten, und es dürfte leider vielen Menschen in die Hände gefallen sein. "Flüchtlings-Flut überschwemmt Rhein-Main" stand da auf dem Titel, was nahelegte: Die Region, in der ich lebe, wird von einer Art Naturkatastrophe heimgesucht. Das ist nicht weit entfernt von der "Asylantenflut", diesem verallgemeinernden und herabwürdigenden Begriff, der Anfang der 90er Jahre von Titelseite zu Titelseite schwappte. Leider bestimmen diese so genannten Wassermetaphern auch heute noch viel zu häufig den Ton, in dem auch seriöse Medien über Flüchtlinge berichten.

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"Leider" nicht nur, weil die 200.000 in diesem Jahr in Deutschland zu erwartenden Flüchtlinge im Vergleich zu 80 Millionen Einwohnern schon rein faktisch keine "Flut" sind. "Leider" vor allem deshalb, weil hier Menschen diffamiert und ihr "Ansturm" auf und ihr "Zustrom" in unsere heile Wohlstandwelt als bedrohliches Katastrophenszenario dargestellt wird. Und Medien damit – so subtil wie automatisch – unser Bild "des" Flüchtlings prägen, der uns bedroht und als Urgewalt über uns kommt, der wir machtlos gegenüber stehen.

All jene, die derzeit bei uns Zuflucht suchen, sind hilflos und haben oft alles, alles zurückgelassen. Nicht selten haben sie halsbrecherische Monate der Flucht hinter sich und setzten ihr Leben aufs Spiel, um hier ein vermeintlich besseres zu finden. Nicht aber wurden sie vom Zufall entwurzelt und aus ihren Heimatländern fortgespült, um die Festung Europa zu fluten.

Die – sicherlich oft unbedachten – Sprachbilder der Medien fördern einen latenten Rassismus in der Gesellschaft. Und das ist dieser Tage das Letzte, was Medien zur Flüchtlingsdebatte beitragen sollten.

 

Hanno Terbuyken, Portalleiter von evangelisch.de:

Flüchtlinge besser in Europa verteilen, die Zahl der so genannten sicheren Drittstaaten ausweiten – das sind die schwachen Versuche der deutschen Politik, mit den Menschen umzugehen, die nach Deutschland kommen möchten. Menschen, die vertrieben von Armut, Krieg und Not mit der Hoffnung auf ein besseres Leben den Legenden von dem reichen Land im Westen folgen. Ein Jahr nach dem Unglück von Lampedusa, das das Jahrzehnte alte Flüchtlingsleid an Europas Grenzen allen vor Augen brachte, sollten sich Politiker etwas besseres ausdenken als Frontex besser auszustatten.

Deutschland ist schon längst ein Einwanderungsland. Der politische Umgang mit Menschen, die hier ein neues Leben suchen, scheint aber geprägt von dem Gedanken: Das sind Flüchtlinge und Asylbewerber, die vielleicht irgendwann wieder weggehen, wenn es bei ihnen zuhause wieder besser wird. Aber diese Menschen suchen nach einem neuen Zuhause. Darum müssen die überlasteten Erstaufnahmeeinrichtungen so ausgestattet werden, dass sie die Menschen, die nach Deutschland kommen, nicht nur bürokratisch weiterschleusen können.

Wir müssen auch erheblich mehr Geld und Energie aufwenden, um den Menschen Deutsch beizubringen, die hier leben wollen. Sprache ist die erste Vorbedingung zur funktionierenden Integration. Aber die politischen Signale, dass Deutschland für alle Menschen eine Heimat sein kann, sind viel zu schwach. SPD, CDU und Grüne wären gut beraten, als Vorreiter in Europa deutlichere Worte anzuschlagen und ihnen Taten folgen zu lassen. Oder die AfD wird der größte Profiteur des Unglücks von vor einem Jahr. Das wäre eine politische Bankrotterklärung.

 

Markus Bechtold, Redakteur bei evangelisch.de:

Menschen flüchten, leiden, manche sterben dabei. Ein Jahr voller Schreckensmeldungen, voller Angst, Leid und Tod, vollgestopft mit Tragödien, die uns in der Redaktion erreichten. Im Umgang mit der Asylpolitik hagelt es in der öffentlichen Diskussion Schuldzuweisungen. Und platte Sprüche hörte ich überall im Land: "Die sind selber schuld! Uns hat damals in der DDR auch keiner geholfen", hörte ich zwei Badende am Ostseestrand in Warnemünde klagen und "Die sollen erst mal unsere Sprache lernen, bevor sie zu uns kommen", sagte mir ein Mann in Gießen. Akustische Meinungsschnipsel unserer Zeit. In Deutschlands Notunterkünften herrschen oft Einsamkeit und Verzweiflung unter den Menschen – aber es keimt auch Hoffnung auf.

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Einzelne Kirchengemeinden haben in den vergangenen Monaten geholfen, Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf zu bieten. "Wir würden das wieder machen, aber uns fehlt der Platz, gerade im Winter", erzählte mir neulich eine Frau. Jetzt wollen sie versuchen, mit einer Nachbargemeinde an einem Strang zu ziehen, denn dort steht mehr Raum zur Verfügung. Vielen bei uns im Land wird die Not der Flüchtlinge erst nach und nach bewusst. Gerade in einem Erinnerungsjahr an die beiden Weltkriege und in einem Monat, in dem man noch einmal die Ereignisse in der Endphase der DDR gehäuft im Fernsehen sieht – aus Zeiten also, in denen Deutsche selbst zu Flüchtlingen wurden –, verändert sich für manche die Perspektive.

Wenn man wie in der Bibel das Wort "Fremder" mit "Gast" gleichsetzt, kann sich die Angst vor dem Unbekannten verlieren. Etwa durch Gespräche, bei denen man sich auf das Gegenüber einlässt, bekommen die Menschen, die vor Terror, Krieg, Hunger und Unterdrückung fliehen, ein Gesicht. Erst dann fällt uns das Wegschauen schwer.