Der Kampf mit dem Buchstaben-Chaos

Foto: Digital Vision/Thinkstock
Geschätzt drei Prozent der Grundschüler in Deutschland - also rund 200.000 Kinder - haben eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS).
Der Kampf mit dem Buchstaben-Chaos
Buchstaben und Texte bleiben rätselhaft: Für die Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) gibt es zahlreiche Therapien, aber nur wenige haben Erfolg. Der Münchner Legasthenie-Experte Gerd Schulte-Körne glaubt, dass nur eine Methode wirkungsvoll ist.
08.09.2014
epd
Birgit Vey

Diktate sind für Lukas der pure Horror: "Hunt" statt "Hund", "Kruk" statt "Krug" oder "Bide" statt "Bitte". Die Buchstaben purzeln bei dem Münchner Viertklässler wild durcheinander. Trotz vielen Übens, trotz vieler Probediktate zuhause, erzählt seine Mutter Julia Schuster (Name geändert). Anfangs habe sie gedacht, ihr Sohn sei einfach nur faul oder unaufmerksam. Irgendwann sei dann Legasthenie bei Lukas festgestellt worden. Für Julia Schuster eine Erleichterung. Nicht Faulheit oder Dummheit sind der Grund für all die fehlerhaften Diktate, sondern eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS).

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Lukas ist damit nicht allein: Bislang gingen Wissenschaftler davon aus, dass drei Prozent der Grundschüler in Deutschland - also rund 200.000 Kinder - eine LRS haben. Der Legasthenie-Experte Gerd Schulte-Körne, der vor kurzem in München 1.600 Grundschulkinder untersuchte, geht von einem weit höheren Anteil aus: nämlich von sechs Prozent.

Bei der Leseschwäche mache den Kindern besonders das Tempo zu schaffen, sagt Schulte-Körne, der Direktor der Münchner Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist. Neben dem langsamen Lesen kommt noch dazu, dass Wörter ausgelassen oder Zeilen übersprungen werden. "Die Grundschüler verlieren den Inhalt, sie können Informationen nicht aufnehmen." Mit anderen Worten: Das Gelesene ergibt keinen Sinn.

Auch Buchstaben aufzuschreiben, will nicht gelingen. Schwierig ist - wie zum Beispiel auch für Lukas -, "b" und "p", oder "d" und "t" zu unterscheiden. "Es wird geschrieben, was man hört. Wir nennen das Lautschrift. Diese notierten Wörter sind aber von der Rechtschreibung her falsch", erklärt Schulte-Körne. Noch anstrengender sei es, den Buchstabsalat so zu ordnen, dass ein ganzes Wort entsteht. Buchstaben werden ausgelassen oder Silben falsch aneinandergereiht. Die Kinder kämpfen mit einem wilden Buchstaben-Durcheinander: "Sie erkennen nicht das Buchstaben-Muster."

Hilfe durch die Laut-Buchstaben-Zuordnung

Es gibt inzwischen zahlreiche Studien, in denen Fördermöglichkeiten für Kinder mit LRS untersucht wurden. Doch eine Durchsicht aller Ergebnisse fehlte bislang. Diese Meta-Analyse hat nun Schulte-Körne geleistet: Er hat Forschungsarbeiten aus den vergangenen 40 Jahren gesichtet. Außerdem hat er 20 Methoden untersucht, die derzeit im Umlauf sind. Welche am effektivsten ist, meint Schulte-Körne nun herausgefunden zu haben: die Laut-Buchstaben-Zuordnung.

Dabei gehe es um gezieltes Üben, bei dem zunächst gelernt werde, einzelne Laute zu unterscheiden und diese dem entsprechenden Buchstaben zuzuordnen, erläutert Schulte-Körne. Auch der umgekehrte Prozess, also den Buchstaben mit einem Laut zu verbinden, gehöre zu den ersten Schritten. Danach folgen Silben, die es zu differenzieren gilt und die ebenfalls dem passenden Schriftbild zugewiesen werden müssen. Erst nach und nach werden diese Buchstaben/Silben-Laut-Kombinationen zu größeren Einheiten wie Wörtern zusammengezogen. "Dieses Wortsystem muss sich einprägen", erklärt Schulte-Körne. Und er betont: "Man sollte nicht die Lautschrift tolerieren."

Auch von Methoden-Reihen, die auf optische und akustische Wahrnehmung abzielen, hält der Experte wenig. Hier sollen farbige Brillen das Lesenlernen erleichtern, oder vorgespielte Sinustöne helfen, Gehörtes besser zu unterscheiden. Eine andere Methodengruppe versucht, mit Medikamenten oder pflanzlichen Präparaten wie Bachblüten das Gehirn zu stimulieren. "Alle diese Methoden funktionieren nicht", ist sich Schulte-Körne sicher.

Eltern müssen sich viel Zeit nehmen

Zugleich betont er, dass die betroffenen Kinder und Eltern sich viel Zeit nehmen müssen. Längere Förderung bringe mehr Verbesserung als kurze Phasen. Statt Kompaktkursen seien kontinuierliche Angebote sinnvoll, die zwischen einem halben bis einem Jahr andauern. Eine solche Förderung wird in der Regel allerdings nicht von der Krankenkasse bezahlt.

Viel Zeit haben sich auch Lukas und seine Mutter genommen. Der Junge besucht seit zehn Monaten einen speziellen Förderkurs in München. Die Fehler in den Diktaten seien spürbar weniger geworden, erzählt seine Mutter.