Julia Probst: "Von Barrierefreiheit profitieren alle"

Die gehörlose Bloggerin Julia Probst im Dezember 2012 in Berlin
Foto: dpa Picture-Alliance/Hannibal
Julia Probst: "Von Barrierefreiheit profitieren alle"
Teil zwei unseres Interviews mit Julia Probst: Rollstuhl-Rampen, SMS-Notruf und die Einsicht, dass auch jemand ohne Gehör ein ebenso erfülltes Leben führen kann wie jeder andere: Im zweiten Teil des Interviews von unserem Autor Ralf Siepmann mit der gehörlosen Bloggerin gibt Julia Probst ganz konkrete Hinweise, wie unsere Gesellschaft inklusiver sein kann.

Das Gehör gilt als der soziale Sinn. Man sagt, jemand möchte mit einem Anliegen "Gehör finden". Erleben Sie im Alltag regelmäßig Situationen, in denen Sie unvermittelt auf Menschen treffen, die Ihr Handicap nicht verstehen oder nicht einschätzen können und voller Unverständnis reagieren?

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Julia Probst: Vom Philosophen Immanuel Kant ist dieser Satz überliefert: "Nicht sehen trennt den Menschen von den Dingen. Nicht hören trennt den Menschen vom Menschen." An sich stimmt der Satz. Wenn ich zum Beispiel auf akustische Informationen angewiesen bin, wenn die Bahn Informationen über den Lautsprecher verkündet, anstatt diese auch über die digitale Anzeige als Laufschrift anzuzeigen, weiß ich mit einem Blick auf meine Mitmenschen, wen ich fragen kann.

Woher stammt dieses Wissen? Intuition, Erfahrung, Menschenkenntnis?

Probst: Früher, vor dem Zeitalter der Smartphones, wurde ich häufig nach der Uhrzeit gefragt. Heute fragt man eher nach dem Weg. Meistens verstehe ich die Person auf Anhieb und gebe die gewünschte Auskunft. Aber es gibt auch die Situation, dass ich nicht verstanden werde. Die Leute gehen dann leicht erschrocken weg mit "Oh, Entschuldigung." Oder sie tun so, als ob sie mich verstanden hätten. Es wird selten nachgefragt: "Oh, Entschuldigung, ich habe Sie grad nicht verstanden. Würden Sie das noch mal wiederholen?" Bei Personen, die mir sympathisch sind und erschrocken weggehen wollen, sage ich: "Ich bin gehörlos. Ich habe Sie nicht sofort verstanden. Bitte wiederholen Sie die Frage. Einfach deutlich und normal langsam sprechen." In der Regel huscht dann immer die große Erleichterung über das Gesicht der Leute. Sie sind froh, eine Erklärung zu haben, nicht wirklich auf ein Alien gestoßen zu sein. Sie sind dann bereit, die Frage noch mal zu stellen.

"Medien verbreiten immer noch sehr viel Falsches über Menschen mit Behinderungen"

Schwerpunkte Ihres politischen Anliegens sind die Schärfung des öffentlichen Bewusstseins für Barrierefreiheit und Inklusion sowie deren Umsetzung in der Praxis. Was sagen Sie Menschen ohne Behinderung, die Ihrer Zielsetzung skeptisch begegnen?

Julia Probst: Durch die fehlende Inklusion gibt es in der Gesellschaft einen Mangel an Miteinander und gegenseitiger Akzeptanz, wenn etwas außerhalb der "Norm" erscheint. Diese Trennung ist aber auch politisch gewollt gewesen. Da hat die Politik viele Jahre verschlafen und tut es bis heute noch. Die Rechte von Menschen mit Behinderung werden nicht ernst genug genommen. Das schadet gesellschaftlich gesehen nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch den Nichtbehinderten. Wir können alle voneinander lernen und profitieren. Das Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention ist, Inklusion als so normal zu vermitteln, dass wir gar nicht mehr darüber sprechen, weil wir es uns gar nicht mehr anders vorstellen können. Skepsis bei dem Thema halte ich für unangebracht. Wenn wir an das Beispiel der Rampe zurückdenken: Jeder kann von einer inklusiven und barrierefreien Gesellschaft profitieren.

Auch in der Schule? Über Inklusion dort wird ja heftig debattiert.

Julia Probst: Gerade dort. Wenn nichtbehinderte Schüler zum Beispiel einen Rollstuhlfahrer in der Klasse haben, werden sie von klein auf sensibilisiert für die menschliche Vielfalt. Sie lernen unterschiedliche Bedürfnisse kennen. Gerade Kinder haben keine Berührungsschwellen und gehen ganz unbefangen aufeinander zu. In dem Fall ist Inklusion mehr als nur ein nachhaltiges Projekt. Nur einer der vielen Pluspunkte: Nehmen wir mal an, einer dieser Schüler wird später Architekt und weiß durch seine Schulzeit, wie wichtig barrierefreies Bauen ist. Das kommt später der Gesellschaft zugute, weil Geld gespart wird, wenn man von Anfang an barrierefrei baut und nicht erst nachträglich. Wir steuern ja auf den demographischen Wandel zu, da werden wir sowieso als Gesellschaft inklusiv werden müssen, je früher, desto besser. Außerdem beugt man so Behindertenfeindlichkeit vor.

Inklusion strebt eine Gesellschaft ohne soziale Barrieren an. Müssen das Menschen ohne Beeinträchtigung noch lernen?

Julia Probst: Nichtbehinderte haben im Umgang mit Menschen mit Behinderung oft einfach Angst, wie sie damit umgehen sollen. Da muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, auch von den Seiten der Medien. Leider verbreiten Medien immer noch sehr viel Falsches über Menschen mit Behinderungen, sei es in Informationssendungen, sei es in Filmen. Oft ist es so, dass Nichtbehinderte in Filmen Menschen mit Behinderung spielen, was ein verzerrtes Bild von Menschen mit Behinderungen erzeugt. Die Berührungsängste werden so noch stärker, weil im Film alles ganz anders rüberkommt. Einmal bin ich erstaunt gefragt worden: "Wieso kannst Du so gut sprechen als Gehörlose?

Im Fernsehfilm letzter Woche war eine Gehörlose, und die hat kein Wort gesprochen." Es gibt sehr viel, was das Medium falsch macht: Wenn ich - ein Beispiel - in einem Fernsehfilm eine Küche sehe, wo angeblich ein Rollstuhlfahrer wohnt, aber die Küche überhaupt nicht rollstuhlgerecht ausgestattet ist. Eine solche falsche Darstellung von Menschen mit Behinderungen ist natürlich kontraproduktiv und schürt Behindertenfeindlichkeit. Wenn das Fernsehen nicht inklusiv und mit korrekten Fakten arbeiten kann, wie soll dann der normale Zuschauer die Vorstellung entwickeln, inklusiv denken und leben zu können?

"Warum gehen wildfremde Leute davon aus, dass derjenige automatisch eine höhere Lebensqualität hat, der hören kann?"

Sie treten öffentlich auf, nehmen pointiert Stellung, sind auf Social Media sehr präsent. Woher schöpfen Sie Kraft für Ihr Engagement, für Ihr Leben, das sicherlich anstrengender ist als das vieler Menschen?

Probst: Ich bin ein Heidenkind, wie man es so schön sagt. Ich war zwar als Kind im evangelischen Kirchenchor und habe dort Bockflöte gespielt. Aber das war es auch mit meinen kirchlichen Erfahrungen. Ich empfinde mein Leben nicht als ungeheuer anstrengend. Strapaziöser ist das Stoßen auf die fehlende Barrierefreiheit. Wenn ich ins Kino gehen will, muss ich dafür nach München oder Stuttgart fahren, also lange vorplanen, weil eben dort viele Filme mit Untertitel zu sehen sind. Es gibt viele Veranstaltungen, auch politische und kulturelle, die ich gerne besuchen würde. Aber das geht sehr oft nicht, weil keine Gebärdensprachdolmetscher für Gehörlose und auch keine Schriftdolmetscher für Schwerhörige eingeplant sind. Und es ist so, dass man Gebärdensprachdolmetscher mindestens sechs Wochen voraus buchen muss.

Die Mehrheitsgesellschaft unterschätzt die praktischen Probleme?

Probst: Was mich schockiert: Ich kann im Notfall nicht mal einfach die Polizei, den Krankenwagen oder die Feuerwehr per SMS zu Hilfe rufen. Den SMS-Notruf gibt es in Deutschland nur in wenigen Regionen, nicht flächendeckend. Nach dem derzeitigen Stand soll sich der gehörlose Mensch ein Faxformular aus dem Internet ausdrucken und irgendwo für den Notfall deponieren, dann ankreuzen und wegfaxen. Aber was, wenn das Haus brennt oder ein Einbrecher im Haus ist? Vom flächendeckenden SMS-Notruf, der übrigens in vielen anderen Ländern schon sehr erfolgreich läuft,so in Österreich, würden auch Nichtbehinderte profitieren. Und nicht nur Gehörlose, sondern auch Menschen mit Sprachproblemen oder Autisten, die ungern telefonieren.

Die Bundeskanzlerin hat uns Gehörlosen die Einführung des Notrufs in ihrem Videpodcast am 03.03.2012 für demnächst versprochen. Wir haben jetzt 2014, und es ist nichts passiert. Das ist unterlassene Hilfeleistung der Bundesregierung und außerdem ein Verstoß gegen Art. 3 des Grundgesetzes sowie die UN-Behindertenrechtskonvention. Da wünsche ich mir noch mehr Engagement von der Bundesregierung in Sachen Barrierefreiheit und Inklusion.


Gibt es bei Ihren Aussagen über Sie persönlich eine Grenze der Auskunft, zum Beispiel bei der Intimität, die Sie offen vermitteln? Oder bei der Sie darauf setzen, dass Ihr Gegenüber sie spürt oder spüren sollte?

Probst: Ja, sicherlich. Ich blogge zwar oft recht freimütig. Aber es gibt auch Grenzen für mich, wo ich mir sage, dass dies Privatsache ist oder ich mich vor den Kopf gestoßen fühle. Etwa dann, mein Gegenüber nicht respektiert, dass ich mich nicht als Behinderte empfinde, nur weil ich nicht hören kann. Lerne ich neue Leute kennen, passiert es oft, dass sie mich begeistert fragen: "Warum lässt du dich nicht implantieren. Im Fernsehen hab ich gesehen, wie das doch super funktioniert. Dein Leben wäre viel einfacher." Warum gehen wildfremde Leute davon aus, dass derjenige automatisch eine höhere Lebensqualität hat, der hören kann? Diese Einstellung empfinde ich schon als sehr übergriffig, obwohl ich natürlich weiß, dass sie es nur gut meinen. Ich sage ja auch nicht zu wildfremden Leuten, deren Frisur oder Figur ich nicht so toll finde: "Sie sollten mal was an sich machen."

Zum Schluss: Was treibt Sie an?

Julia Probst: Mein Engagement ist zum großen Teil getragen von einer ordentlichen Wut im Bauch, großem Idealismus und gestärkt durch einige tolle Erfolgserlebnisse. Ich habe eben schon einiges erreichen können.

Klicken Sie hier für Teil eins unseres Interviews mit Julia Probst, in dem sie erzählt, wie sie in zwei Welten aufwuchs!