"Ich nannte es eine 'schlimme Nacht'"

Foto: epd-bild/Stefan Arend
"Ich nannte es eine 'schlimme Nacht'"
Studentinnen werden besonders häufig Opfer sexueller Gewalt. An einer Uni im US-Bundesstaat Virginia wurden erst kürzlich wieder Fälle von Vergewaltigungen publik. An deutschen Hochschulen wird das Thema hingegen nahezu tabuisiert.

Emma (Name geändert) erinnert sich noch gut an diese eine Nacht, die sie lieber vergessen will. Fünf Jahre verdrängte sie ihre Gefühle, bis sie verstand, was damals mit ihr geschah. "Ich war 15, und ich erkannte nicht, dass das, was mir passiert ist, eine Vergewaltigung war", sagt Emma mit fester Stimme.

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Heute kann die Studentin aus dem Mittleren Westen der USA über ihre Erlebnisse reden. "Ich nannte es statt Vergewaltigung eine 'schlimme Nacht'. Es war die erste Nacht, in der ich richtig betrunken war." Die Studentin schämte sich nach dem Übergriff, dass sie so viel Alkohol getrunken hatte. "Ich habe mich gefühlt, als wäre es vielleicht meine eigene Schuld", erzählt sie.

Das änderte sich erst Jahre später im Studium: An der Beratungsstelle ihrer Uni konnte sie mit einem Therapeuten die Vergewaltigung aufarbeiten. Sexuelle Gewalt wird an amerikanischen Hochschulen viel diskutiert, auch weil die Missbrauchszahlen so hoch sind. Eine aktuelle Reportage des "Rolling Stone" über Vergewaltigungen an der University of Virginia sorgt derzeit für viel Aufmerksamkeit, aber das Thema ist schon länger aktuell. Aktivisten fordern deshalb einen Kulturwandel an den Unis. An deutschen Hochschulen findet das Thema hingegen nur wenig Beachtung.

In den USA wird jede vierte Frau zwischen 18 und 24 Jahren vergewaltigt, fast immer kennt sie den Täter - er ist ein Freund, Bekannter oder sogar der Partner.

Wut, Scham und schreckliche Gefühle

Auch in Deutschland sprechen die Statistiken für sexuelle Übergriffe eine deutliche Sprache: Jede zweite Frau wird nach einer EU-Studie während des Studiums sexuell belästigt. Laut Bundesfamilienministerium wird jede achte Frau in Deutschland vergewaltigt. Nach Expertenmeinung ist die Zahl bei Studentinnen noch höher.

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In den USA entstehen an immer mehr Unis Beratungsstellen für sexuelle Übergriffe. Auch an Emmas Uni, der American University in Washington D.C. Erst Therapeut Daniel Rappaport half ihr aus der Depression. "Ich verstand nie, was in mir vorging. Da war nur eine verworrene Menge Wut, Scham und wirklich furchtbare, schreckliche Gefühle über mich selbst", erinnert sich Emma.

Dass Emma ihre Vergewaltigung eine "schlimme Nacht" nannte, sei typisch, sagt Rappaport. "Die meisten zögern, es zu benennen", erklärt der 28-Jährige. Das sei eine Bewältigungsstrategie. Rappaport unterstützt Studentinnen therapeutisch, aber auch bei rechtlichen Schritten gegen den Täter oder bei organisatorischen Angelegenheiten, etwa wenn die jungen Frauen Kurse oder Wohnheimzimmer wechseln wollen.

An deutschen Hochschulen sind die psychologische Studienberatung und die Gleichstellungsbeauftragte erste Anlaufstellen bei Übergriffen. An einigen Unis gibt es zudem eine Frauenbeauftragte und Selbstbehauptungskurse. Die verschiedenen Stellen müssten aber mehr miteinander kommunizieren, sagt Thomas Feltes, Professor für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum. Er verantwortete die EU-Studie "Gender-based Violence, Stalking and Fear of Crime" von 2012. In der Studie heißt es, dass bei den "Universitätsleitungen eine generelle Zurückhaltung bezüglich des Forschungsthemas besteht".

Viele Schicksale, die Therapeut Rappaport hört, klingen ähnlich: Oft beginne der Sex einvernehmlich. "Dann tut es den Frauen plötzlich weh. Sie bitten die Männer, aufzuhören, was sie aber nicht machen", erzählt Rappaport. "Die Männer finden irgendeine Ausrede wie 'Ich bin gleich fertig' oder 'Lass mich noch eben kommen'. Das passiert jeden Tag." Ab dem Punkt, an dem die Männer ohne Zustimmung der Frau weitermachten, vergewaltigten sie sie.

"Ein Problem, das uns alle betrifft"

Der Kulturwissenschaftler Jackson Katz sieht in sexueller Gewalt ein globales Problem. Die Situation in den USA unterscheide sich aber von der in Europa. "Amerika hat so eine gewaltvolle Vergangenheit und bestimmte, mit Gewalt verknüpfte Männlichkeitsideale", sagt der Autor und Filmemacher. Dazu komme die amerikanische Hochschulkultur: der hohe Alkoholkonsum, die von Pornos, Sex und Gewalt geprägte Gesellschaft. "Die Grenze zwischen Zustimmung und Ablehnung von Sex ist oft verzerrt, weil sexuelle Aggressivität normalisiert wird", erklärt Katz.

Emma half es, mit anderen Mädchen über ihre Vergewaltigung zu sprechen. "Es ist ein wundervoller Gedanke zu wissen, dass ich jemandem geholfen habe", sagt Emma. "Sexuelle Gewalt ist ein Problem, das uns alle betrifft, und jeder kann sich einschalten, um etwas zu verändern." Sie wird ihre Geschichte deshalb immer wieder erzählen.

Diese Geschichte ist erstmals am 2. September 2014 auf evangelisch.de erschienen.