"Christlichkeit geht nur vernetzt"

"Christlichkeit geht nur vernetzt"
Der Religionssoziologe Paul M. J. Zulehner wundert sich nicht darüber, warum so viele Menschen den großen Kirchen den Rücken kehren. Zuviel hätten die Kirchen von der Erbschuld geredet, zuwenig vom Erbheil und dabei vergessen herauszustellen, was an ihr attraktiv sei. Ein Ausweg für die Zukunft: Die Vielfalt der Strukturen.
02.04.2012
Von K. Rüdiger Durth

"Die Zukunft liegt in der Vielfalt der Strukturen." Davon ist der emeritierte Wiener Theologieprofessor Paul M. J. Zulehner (72) überzeugt, der für die zunehmende Zersplitterung des Religiösen in unserer Gesellschaft den Begriff von der "Verbuntung" geprägt hat. Zulehner, der zu den bedeutendsten europäischen Religionssoziologen zählt, setzte sich auf Einladung des Ökumenischen Pfarrkonventes der Bonner Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) mit der Frage auseinander, wie die weltanschauliche "Verbuntung" die Mission der Kirchen herausfordert. Vorausgesetzt, die Vielfalt weist auf Jesus Christus hin. Dies wiederum erfordere von den Kirchen, selbstbewusster als bislang ihr Angebot für den Menschen herauszustellen. Schließlich ist aus seiner Sicht nur der wirklich Christ, wenn er das auch weitergibt, was ihn zum Christen macht.

Für Zulehner gilt Heiner Geißlers Feststellung, dass "jeder intelligente Katholik in seinem Herzen auch Protestant ist." Nicht nur, weil die beiden großen Volkskirchen etwas von der Bindungskraft der Baptisten lernen können ("Die haben Power") oder weil die Freikirchen "noch keine Anzeichen von spiritueller Erschöpfung haben", sondern weil "wir lernen müssen, die Vielfalt zu schätzen". Wer einen Blick für die Vielfalt christlichen Lebens habe, der werde auch wieder ganz neu den Reichtum der Kirchen entdecken und ihn für die Mission nutzen. Und dieser Reichtum besteht für die Kirchen nicht zuletzt in ihren Ritualen, "die das stabilste sind, das die Kirche hat."

Kirche, Glaube, Religion sind heute für den Menschen nicht mehr selbstverständlich: Religion, sagt Zulehner, ist für die meisten Menschen "Erleben, nicht Denken." Sie würden sich religiös das zusammensuchen, was sie für ihr Leben brauchen: "Wir haben es mit modernen religiösen Pilgern" zu tun. Und diese Pilger seien auf der Suche nach Antworten für ihr angstbesetztes Leben. Vor allem sei es die Angst, "zu kurz zu kommen". Doch was bieten die beiden Volkskirchen aus der Sicht Zulehners? "Sie verwenden die meiste Kraft darauf, die zu bekehren, die schon bekehrt sind. Anders ausgedrückt: Die kleiner werdende Kerngemeinde erfordert die meiste Kraft der Kirchen."

Zu selten wird gefragt, warum so viele Menschen den Kirchen den Rücken kehren

Viel zu wenig werde laut Zulehner ernsthaft danach gefragt, warum so viele Menschen den großen Kirchen ihren Rücken kehren. Und es wird übersehen, wie viele Kirchenmitglieder nur noch "stand by" sind, also nur noch auf dem Papier sind Mitglieder sind. ("Bei den Protestanten mehr als bei den Katholiken"). Allerdings ist das für den Wiener Religionssoziologen auch kein Wunder angesichts der Tatsache, dass gern über die Kirche gejammert werde, aber immer weniger sagten, was an seiner Kirche attraktiv sei und an dem man unbedingt teilnehmen müsse.

Nach Zulehner wissen die Menschen sehr wohl, was gut ist ("Die Menschen sind nicht so schlecht, wie wir Katholiken sie gern hätten"), aber sie würden es selber nicht. Das führt zur Sehnsucht der Menschen nach Heilung und Gemeinschaft. Letztere würde vielen Menschen in den Kirchen zu wenig geboten, weil sie ihnen zu anonym geworden ist. "Christlichkeit geht nur vernetzt", sagt Zulehner, und weist darauf hin, dass der Glaube desjenigen "verdunstet", der außerhalb der Kirche steht.

Kirchen müssen wieder "enthüllen, was Gott in und für alle Menschen tut"

Zuviel hätten die Kirchen von der Erbschuld geredet, zuwenig vom Erbheil. Um das zu ändern, müssten die Kirchen wieder "enthüllen, was Gott in und für alle Menschen tut". Es geht um die Liebe. Zulehner kann deshalb auch sagen: "Die Kirchen müssen enthüllen, dass wir Menschen zur Liebe geschaffen sind, weil Gott der Liebende ist." Indem wieder die Liebe enthüllt wird, wird Heilung sichtbar und Jesus, der Heiland als Heil-Land begreifbar. Zulehner: "Wir trauen Gott zu, dass alle zu Liebenden werden." Für ihn ist deshalb das Jesus-Wort aus der Bergpredigt vom Licht und Salz ein zentrales Wort: Das Licht enthüllt und das Salz heilt.

Konkret: In der "Enthüllung" zeigen die Christen, was durch Gottes Geist alles möglich ist und auf was hin sich alles entfaltet. In der Nachfolge des Heilandes wird das Heil-Land sichtbar und die Angst, die das Lieben verhindert, verliert sich. Dieses Ziel wird durch eine Vielfalt der Strukturen erreicht, der sich die Christenheit nicht verschließen soll – weil in ihnen die Zukunft liegt.


K. Rüdiger Durth, Journalist und Theologe in Bonn und Berlin, schreibt für evangelisch.de.