Herr Safina, welches Ausmaß haben die Umweltschäden seit der Havarie im April 2010 angenommen?
Carl Safina: Die Ölkatastrophe "Deepwater Horizon" wird gern mit dem Exxon-Valdez-Unglück von 1989 vor Alaska verglichen. Die Schäden von heute sind aber weniger schlimm als die von damals, und sie sind weniger schlimm als kurz nach "Deepwater" angenommen wurde. Die Exxon-Valdez-Katastrophe richtete, obwohl damals weniger Öl ausgelaufen war, mehr Schäden an. Im Golf von Mexiko verendeten viele Vögel und Schildkröten, aber weit mehr überlebten. Ich habe auf dem Höhepunkt der Krise selbst viele Wasservögel gesehen, die nicht ölverschmiert waren. Große Zahlen an Schildkröten überlebten, weil die Eier rechtzeitig an die Küsten von Florida transportiert wurden.
[listbox:title=Mehr im Netz[Website von Carl Safina##Blue Ocean Institute##Wikipedia-Seite zur Ölpest im Golf von Mexiko##Website von BP]]
Meines Wissens nach gab es auch relativ wenige ölverseuchte Fische, Krabben und Garnelen – relativ wenige, muss ich betonen. Viele Austern verendeten, aber nicht direkt infolge des ausgelaufenen Öls, sondern wegen der Süßwassermengen, die die Behörden aus den Dämmen ins Meer leiteten, um die Ölmengen von den Stränden fernzuhalten. Öl hat das nicht gestoppt, aber es hat große Mengen an Austern zerstört. Die Schließung des Fischereibetriebs hatte den Effekt, dass Millionen von Meerestieren überlebten, die sonst dem Fischfang zum Opfer gefallen wären. Wenn man die Zahl der toten Fische wegen der Ölverseuchung gegen die Zahl der Fischvermehrung infolge der ausfallenden Fischerei rechnet, dann hat sich der Fischbestand im Golf wahrscheinlich sogar erhöht.
Wie viel Öl ist im Golf von Mexiko geblieben?
Safina: Nach Angaben der Regierung und nach Berechnungen unabhängiger Wissenschaftler ist der größte Teil des ausgeflossenen Öls im Ökosystem geblieben, je nach Kategorisierung zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln. Nur etwa ein Viertel wurde durch menschliche Intervention direkt verbrannt, abgesaugt oder anderweitig eingesammelt. Der Großteil befindet sich weiterhin in unterschiedlichen Aggregatzuständen in der Natur: entweder als mikroskopisch kleine Ölbläschen, als Klumpen auf oder nahe der Meeresoberfläche oder als Ablagerung in Sedimenten und Sand.
"Drei Viertel des Öls sind noch vorhanden"
Was weiß man genau über die Schäden?
Safina: Der offizielle Regierungsbericht ist leider ungenau und teilweise verwirrend, weil er mehrmals auseinander liegende Kategorien vermischt. Im einem vertrauenswürdigen Alterativgutachten namens "Georgia Sea Grant Program" werden die im Ökosystem verbliebenen Ölmassen auf 70 bis 79 Prozent der Gesamtmenge geschätzt.
Carl Safina. Foto: Michael J. Lutch
Wie sind die langfristigen Folgen einzuschätzen?
Safina: Um mit den Meerestieren anzufangen: Bei Fischeiern und Larven, die dem Öl zum Opfer fielen, ist die Sache viel schwieriger. Wir werden über Jahre hin nicht wissen, ob die Ölpest die Reproduktionsfähigkeit der Meerestiere geschmälert hat. Es gibt beispielsweise Berichte von Fischen mit merkwürdigen Schuppenkrankheiten. Nicht auszuschließen sind in den kommenden Jahren böse Überraschungen.
Was befürchten Sie?
Safina: Wir dachten zum Beispiel zunächst, dass nur wenige Delphine sterben würden. Aber ein paar Monate, nachdem der Ölfluss aus dem Bohrloch gestoppt war, wurden Hunderte von jungen toten Delphinen an die Strände gespült. Wahrscheinlich hatten ihre Delphinmütter überlebt, aber vermutlich chemische Lösungsmittel eingeatmet oder Öl direkt geschluckt, was die embryonale Entwicklung beeinträchtigte.
"Dem Konzern kann man nicht vertrauen"
Bleiben die Folgen auf das Meer beschränkt?
Safina: Nein, auch einige Menschen klagen über Beschwerden und Krankheiten, nachdem sie mit den Chemikalien, die das Öl "auflösen" sollten, in Berührung gekommen waren. Es ist schwer zu sagen, wie viele Menschen erkrankt sind und welche Krankheiten direkt auf das Öl oder auf die Chemikalien zurückzuführen sind. Nicht zu sprechen von dem außergewöhnlichen Stress, dem Tausende ausgesetzt waren, weil sie glaubten, sie hätten bis ans Lebensende alles verloren, weil auf einmal sämtliche Einkommensmöglichkeiten weg waren, oder weil der Wert ihrer Häuser auf Null fiel.
Sind die Zahlen, die BP und die US-Regierung anführen, glaubwürdig?
Safina: 87 Tage lang floss Rohöl aus dem Bohrloch. Über die Menge verbreitete BP wochenlang reine Lügen. Und nicht nur das: Die Firma versuchte außerdem in vielfacher Weise zu verhindern, dass sich Außenstehende ein eigenes Bild machen konnten. BP pochte darauf, 5000 Barrels träten pro Tag aus. In Wirklichkeit waren es 60.000 pro Tag, also mehr als das Zehnfache, wie unabhängige wissenschaftliche Schätzungen ergaben. Den Angaben des Konzerns ist deshalb auch heute überhaupt nicht zu vertrauen.
Was ist der Hintergrund?
Safina: BP hat natürlich gewichtige wirtschaftliche Beweggründe, die kleinstmögliche Menge anzugeben. Schließlich hängt die Höhe der Strafe nicht unwesentlich davon ab, welche Menge ausgeströmten Öls das Gericht für glaubwürdig befindet. Wenn andererseits die US-Regierung die höchstmöglichen Zahlen angibt, wäre ich auch nicht überrascht. Die Anwälte Washingtons werden zu beweisen versuchen, dass BP "criminally negligent", also grob fahrlässig handelte, um möglichst viel an Schadensersatz herauszuschlagen. Zurecht, wie ich finde.
Angst vor sozialen Unruhen
Das Verfahren, das jetzt beginnt, wird in der Presse "Jeder gegen jeden" genannt. Worin besteht Ihrer Meinung nach die Strategie von BP?
Safina: BP hat in der Vergangenheit sehr viel Geld ausgegeben, um zu außergerichtlichen Vergleichen zu kommen - Geld, das die Firma aus juristischer Sicht nicht unbedingt ausgeben musste. Aber der Konzern wollte damit Schadensersatzklagen zuvorkommen. Er zahlte um die 20 Milliarden Dollar, davon Beträge an Menschen, die wegen der Fischereisperren keine Einkünfte mehr hatten. Letztendlich wollte BP damit sozialen Unruhen zuvorkommen, die an der Golfküste mit Sicherheit ausgebrochen wären.
Und: der Konzern wollte sich den US-Markt nicht verderben. Denn es ging und geht um die Genehmigung weiterer Ölbohrungen auf US-Territorium durch die Washingtoner Regierung. Vor Gericht will BP nachweisen, dass es sich nicht um eine hausgemachte grobe Fahrlässigkeit handelte, sondern dass die anderen schuld waren. Zum Beispiel die Schweizer Firma "Transocean", der die Bohrinsel "Deepwater" gehörte. Oder auch der Halliburton-Konzern, der das nicht funktionierende Zementgemisch lieferte, das als Pfropfen auf dem Leck hätte dienen sollen. Oder auch der texanische Konzern Anadarko, der zu 25 Prozent an der Ölquelle beteiligt war.
Carl Safina ist Umweltschützer, Gründungspräsident des Blue Ocean Institute in Cold Spring Harbor, New York, und Autor des Buchs "A Sea In Flames: The Deepwater Horizon Oil Blowout" (Crown, 398 S., ca. 20 Euro).
Max Böhnel arbeitet als freier Journalist in New York.