Abfall und Dreck türmen sich meterhoch. Dazwischen liegen verschimmelte Matratzen, über die Ratten laufen. Ein beißender Geruch durchzieht die Ruine ohne Dach und Fenster. Pastor Paulo Cappelletti steht vor einem knapp vier Quadratmeter großen dunklen Loch und sagt: "Hier hat eine Frau mit zwei kleinen Kindern gewohnt."
Etwa 300 Drogensüchtige teilten sich bis vor Kurzem das Gemäuer im Zentrum von São Paulo. Geblieben sind ein vergessenes Kuscheltier und ein Graffito "Willkommen in unserem Heim, in Cracolândia".
Katz-und-Maus-Spiel mit den Abhängigen
Das Gebiet rund um den ehemaligen Bahnhof Luz war der Zufluchtsort für die Ausgeschlossenen: Crack-Abhängige, Obdachlose und Prostituierte. Jetzt prägen Uniformierte das Bild. In einer Nacht- und Nebel-Aktion stürmte berittene Polizei durch die Straßen und trieb die Menschen mit Tränengas und Schlagstöcken auseinander. Fotos zeigen, wie die Sicherheitsbeamten mit Motorrädern in die Massen fahren, um vermeintliche Dealer zu jagen.
Die Polizei sagt, es gehe darum, "die Logistik der Dealer zu stören". Dadurch, dass sie nicht an Drogen kämen, seien die Süchtigen dazu gezwungen, Hilfe zu suchen, verteidigt der zuständige Polizeikoordinator Luiz Alberto Chanves de Oliveira die Strategie. Die brasilianischen Medien hingegen sprechen von einer "Säuberungsaktion".
Jeden Abend kann man seitdem sehen, wie sich die Crack-Abhängigen bei Einbruch der Dunkelheit auf den nahegelegenen Straßen versammeln. Sobald die Dealer auftauchen, setzen sich die bis zu 4.000 völlig abgemagerten Gestalten in Bewegung. Dann geht die Polizei dazwischen und vertreibt sie. Doch schon an der nächsten Ecke wiederholt sich die gleiche Szene. Eine "Karawane des Elends", schreiben lokale Medien.
Angst ums Image der Stadt
Inzwischen empören sich viele über das brutale Vorgehen der Polizei - Politiker, Justizangehörige, Menschenrechtler. Die Staatsanwaltschaft von São Paulo kritisierte, die desaströse Aktion mache die jahrelangen Bemühungen der Sozialarbeiter zunichte. "Man kann sich wirklich nicht vorstellen, wie diese Operation mit Gummigeschossen und Tränengasbomben den Drogenhandel aus der Stadt vertreiben soll", sagt der für Menschenrechte zuständige Staatsanwalt Eduardo Valério.
Misstrauen erregt das Vorgehen vor allem deshalb, weil São Paulos Stadtregierung längst andere Pläne für Cracolândia, das Viertel im Zentrum, hat. Viele Häuser sollen abgerissen und moderne Wohnblocks erbaut werden. Ein Privatunternehmen hat bereits den Zuschlag bekommen und treibt die Immobilienpreise in die Höhe.
Das von Bürgermeister Gilberto Kassab propagierte "Revitalisierungsprojekt" soll rund vier Milliarden Reais (rund 1,75 Milliarden Euro) kosten. Die Behörden bemühen sich vor den Bürgermeisterwahlen im Oktober und der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 um eine sichtbare Verschönerung der Stadt.
"Erste Regel: keine Drogen"
Pastor Paulo, der seit mehr als 20 Jahren Süchtige in dem Stadtviertel betreut, versteht den Sinn der Polizeiaktion, wenn auch nicht die brutale Umsetzung. "Die Dealer haben hier das Sagen. Es ist wichtig, dass der Staat das nicht zulässt." Eines der größten Probleme seien fehlende Therapieplätze. Seit zwölf Jahren dürfen Therapiewillige in seinem Haus wohnen. Mehr als 800 Drogensüchtige hat er in den Jahren schon aufgenommen. "Es gibt drei Regeln", erklärt der Baptist. "Keine Drogen, egal welcher Art. Sie müssen ihren Schulabschluss machen oder nachholen. Und alle Güter werden geteilt."
Das Problem sei, dass viele Süchtige aus zerrütteten Familien kommen und nach der Therapie dorthin zurückkehren. Deshalb bietet Pastor Paulo mit seiner Hilfsorganisation Plätze in Wohngemeinschaften an. "Das ist der erste Schritt zurück in ein normales Leben", ist er sicher. Beim Gang durch Cracolândia trifft der 51-Jährige viele ehemalige Schützlinge. "Mädchen, Du bist aber dünn geworden", ruft er einer jungen Frau hinterher, die vor einigen Monaten noch bei ihm im Haus gewohnt hat. "Die Erfahrung besagt, dass jeder Süchtige mindestens einmal wieder rückfällig wird."