Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagenbehörde, Roland Jahn, hat sich gegen eine Schwarz-Weiß-Malerei beim Thema DDR-Staatssicherheit ausgesprochen. Insgesamt müsse man von den Schubladen Opfer und Täter wegkommen, sagte der frühere ARD-Journalist im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Jahn, der 1983 unter Zwang aus der DDR abgeschoben wurde, sagt über sich selbst, er sei nie nur ein "Opferlamm" gewesen. Mit Jahn sprachen die epd-Redakteure Markus Geiler und Thomas Schiller über 20 Jahre Unterlagengesetz, die Zukunft der Akten und die Kontroverse um die Beschäftigung früherer Stasi-Mitarbeiter in der Behörde.
Mit wie vielen Anfragen rechnen Sie im Jahr 2012?
Jahn: Das Interesse ist nach wie vor ungebrochen, aber man kann das nicht vorher berechnen. Entscheidend ist, dass die Akten offen sind. Das Problem ist, dass die Wartezeiten viel zu lang sind, runde zwei Jahre. Hier gilt es, diesen Antragsstau abzubauen und für den Bürger da zu sein.
Wie viele Leute fragen an, die keine Akte haben?
Jahn: Bei ungefähr 30 Prozent der Anfragenden liegen keine Informationen vor. Alle anderen sind irgendwie bei der Stasi registriert, sei es durch eine Karteikarte oder umfassender in Akten.
Wie soll es nach 2019 mit den Stasi-Akten weitergehen - Überführung ins Bundesarchiv?
Jahn: Die Behörde existiert so lange, wie sie gebraucht wird. Der Bedarf der Bürger und das Parlament werden das entscheiden. Wir haben Arbeitsaufgaben, die erfüllt werden müssen. Das ist die persönliche Akteneinsicht, aber auch die Überprüfung des öffentlichen Dienstes, die jetzt bis 2019 gemacht wird. Es ist gut, dass die Frist verlängert worden ist, damit die Gesellschaft Vertrauen in den öffentlichen Dienst hat. Darüber hinaus gibt es die Anträge von Wissenschaft und Medien. Die Akten sollen zur Verfügung stehen, egal welches Türschild draußen dransteht. Als jemand, der für Aufklärung steht, kann ich nur sagen: Es ist gut, wenn es die Möglichkeit gibt, nachzuschauen, um zu wissen wie es war und wer es war.
"Das Gesetz ist
in seiner Anwendung
eine Erfolgsgeschichte"
Wie fällt Ihre Bilanz nach 20 Jahren Stasi-Unterlagen-Gesetz aus?
Jahn: Das Gesetz ist in seiner Anwendung eine Erfolgsgeschichte. Einerseits ist es gelungen, den Datenschutz zu wahren, andererseits aber Transparenz über das Funktionieren des Ministeriums für Staatssicherheit herzustellen. Dieser Spagat ist mit Hilfe dieses Gesetzes ausgezeichnet gelungen. Das zeigt auch unsere internationale Anerkennung, in Osteuropa und weltweit.
Gibt es denn Aspekte, bei denen sich im Rückblick zeigt, dass der Gesetzgeber etwas besser hätte machen können?
Jahn: Ja klar. Der Gesetzgeber hat in seinen acht Novellierungen auf Hinweise reagiert. Zum Beispiel ist jetzt der Paragraf verändert worden, der die Einsichtnahme in Akten von Verstorbenen regelt. Das wurde erleichtert. Das ist gerade mit Blick auf die junge Generation wichtig. Die Menschen wollen wissen: Wie war das mit meinen Eltern, mit meinen Großeltern? Sie wollen Familiengeschichte aufarbeiten in Bezug auf die DDR-Vergangenheit.
War die umstrittene Beschäftigung früherer Stasi-Mitarbeiter in der Behörde eine Panne, die bewusst in Kauf genommen worden ist? Oder fehlte die Sensibilität?
Jahn: Es gab die Diskussion darum von Anfang an. Das wurde immer kontrovers diskutiert. Als Bundesbeauftragter handele ich nach der Überzeugung, die ich schon vorher hatte.
"Mir gefallen Pauschalisierungen nicht.
Insgesamt muss man von
den Schubladen Opfer und Täter wegkommen"
Hätte man sich 1992 ohne frühere MfS-Leute in den Akten zurechtgefunden?
Jahn: Aus meiner Sicht hätte man sich zurechtgefunden. Aber es ist jetzt müßig, diese Diskussion zu führen. Es gilt jetzt das Problem zu lösen, die Empfindung der Opfer ernst zu nehmen. Deswegen ist die angestrebte Lösung, diese ehemaligen Stasi-Mitarbeiter in eine andere Behörde zu versetzen, ein gangbarer Weg. Ich habe die Ministerien angeschrieben, damit sie Stellen bereitstellen mögen. Einzelne Stellenangebote sind schon da. Wir wollen ja ein umfassendes Angebot, um Lösungen zu finden.
Sie machen die Opfer-Perspektive geltend. Das Wort Opfer weckt Emotionen - anders als der politische Begriff von Verfolgten oder der juristische von Geschädigten. Besteht nicht die Gefahr, das Schwarz-Weiß-Schema Opfer/Täter zu bedienen?
Jahn: Man greift auf Begriffe zurück, die Menschen sich selbst geben - ich spreche etwa mit Opferverbänden. Aber mir gefallen Pauschalisierungen nicht. Insgesamt muss man von den Schubladen Opfer und Täter wegkommen. Gerade bei Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) der Staatssicherheit sind die Grenzen fließend. Wir sollten in Zukunft mehr die Chance nutzen, mit Hilfe der Stasi-Akten einen differenzierten Blick auf Zusammenhänge und auf Biografien zu werfen.
Gab es denn ein "richtiges Leben im falschen"?
Jahn: Das ist ein schwieriger Begriff. Aber gerade beim Thema Staatssicherheit darf keine Schwarz-Weiß-Malerei betrieben werden. Man darf nicht immer schreien: "Hier ist das Stasi-Schwein." Es ist wichtig, genau hinzuschauen, warum jemand dazu gekommen ist, sich als Inoffizieller Mitarbeiter zu verpflichten oder warum jemand Informationen gegeben hat auch ohne Verpflichtung. Die Zukunft sollte vom genauen Hinschauen geprägt sein. Es geht darum, ein Klima zu schaffen, in dem Menschen bereit sind, offen über ihre Zwänge oder auch über ihre Irrtümer zu reden.
"Ich habe selbst im Knast versucht,
mein Lachen und
meine Fröhlichkeit zu bewahren"
Hat sich der Polizeiführer, der Sie 1983 bei Ihrer Abschiebung aus der DDR mit einer Kette geknebelt hat, mal bei Ihnen gemeldet und sich entschuldigt?
Jahn: Dieser Polizist nicht. Aber ich habe verschiedene Stasi-Leute getroffen, die gegen mich aktiv waren. Es ist aber noch nicht zu einem direkten Gespräch gekommen, von dem ich sagen würde, das wäre eine Bitte um Entschuldigung. Ich würde mir wünschen, dass es dazu kommt und dass die Menschen, die an dem Unrecht beteiligt waren, dass mir ganz konkret widerfahren ist, auf mich zukommen. Ich möchte mit ihnen darüber reden, wie sie in die Situation gekommen sind, dass sie so gehandelt haben. Am Ende einer intensiven Auseinandersetzung könnte stehen, dass ich bereit bin zu vergeben.
Wie lange haben Sie sich selbst als Opfer gefühlt?
Jahn: Ich bin nie das Opferlamm gewesen, aber es stimmt, mir wurde etwas angetan. Auf der anderen Seite bin ich aber auch immer Akteur gewesen, der sich zur Wehr gesetzt hat.
Wann gab es für Sie wieder etwas wie Normalität in Ihrem Leben?
Jahn: Ich bin nie der Typ gewesen, der verbittert ist. Ich habe selbst im Knast versucht, mein Lachen und meine Fröhlichkeit zu bewahren. Da hat mir so ein Lied wie von Wolf Biermann geholfen: Du lass Dich nicht verbittern in dieser bittren Zeit? Das ist das Wichtige: die Lebenslust und das Lachen dagegen zu setzen. Das war zu DDR-Zeiten so, das war aber auch danach so, bei der Aufarbeitung und bei meiner Arbeit als Journalist. Man kann besser aufklären, wie es war, wenn man ruhig und sachlich an die Dinge geht. Und das versuche ich natürlich auch als Bundesbeauftragter.