Die meisten Lehrer hätten diesen Zwischenruf wahrscheinlich wohlwollend kommentiert, sich vielleicht zu einer Spendenaktion breitschlagen lassen, und wären dann zum Lehrplan übergegangen. Nicht so der Religionslehrer dieser Maurerklasse, der evangelische Pfarrer Roland Kühne aus Kempen. Er nahm den Vorschlag ernst. Doch alleine, so viel war ihm klar, würden Die Maurer-Azubis in Haiti wenig ausrichten können. Also begann Kühne, mit großen und mittelgroßen Hilfsorganisationen zu telefonieren - doch die wollten alle nicht die Verantwortung für die Schüler übernehmen. Schließlich fand Kühne die kleine Peter-Hesse-Stiftung.
Peter Hesse, ein 74-jähriger ehemaliger Unternehmer, engagiert sich seit 1981 in Haiti und hat eine eigene Stiftung für Hilfsprojekte in dem Land gegründet. Einer seiner Schwerpunkte ist die Ausbildung von Lehrerinnen: "Es gibt ein gravierendes Missverständnis", sagt Hesse, "in Haiti bauen alle Schulen, aber es gibt keine Lehrer." Deswegen hatte seine Stiftung das Ausbildungszentrum in der Hauptstadt aufgezogen.
Dann kam das Erdbeben am 12. Januar 2010. "Es hat den Kernbereich unseres Erfolges kaputtgemacht", sagt Hesse. Der Anruf von Pfarrer Roland Kühne kam ihm in dieser Situation vor "wie eine Rettung von oben. Ich war begeistert!" Maurer waren genau die Leute, die er jetzt gebrauchen konnte, um das Ausbildungszentrum wieder hochzuziehen.
"Bettler überall, hilflose Menschen..."
Auf eine solche Fügung hatten die Berufsschüler in Kempen gehofft, ihren Religionslehrer immer wieder gefragt, ob denn nun aus ihrer Reise nach Haiti etwas wird. Und eines Tages, so erinnert sich Maurer-Azubi Jörg Tappiser (22), kam der Pfarrer in die Klasse und sagte: "Wir fliegen! Jetzt wird's natürlich ernst!"
Roland Kühne und seine Schüler begannen, in Kempen Spenden einzutreiben, kümmerten sich um Sonderurlaub, Flugtickets und Impfungen, der Pfarrer selbst reiste mit einem Vortrupp nach Haiti. Die Hesse-Stiftung kaufte ein Baugrundstück in Liancourt, etwas außerhalb von Port-au-Prince, und warb einheimische Bauarbeiter an. Das Abenteuer begann.
"Es war ganz ganz schlimm", so beschreibt Jörg Tappiser heute, nach zwei Jahren, seinen ersten Eindruck von Haiti. Er macht eine Pause beim Erzählen, um dann zu wiederholen: "Ganz schlimm!" Von oben, aus dem Flugzeug, habe die Insel ja sehr schön ausgesehen. Aber dann, beim Rausgehen aus dem Flughafen: "Bettler überall, hilflose Menschen, denen das Elend ins Gesicht geschrieben war, und alle bettelten 'Please, please, give me a Dollar'!" Aus dem Auto heraus warf Tappiser einem Mann Geld zu und bekam einen dankbaren Blick zurück. Einen Blick, den er nicht vergessen wird.
Dann die Fahrt aus der Stadt heraus durch die Elendsviertel, vorbei an Hütten aus Stöcken und blauer Folie, "kilometerweit, es wurde immer schlimmer. Einfach nur Armut, so was hab ich noch nie gesehen!" Noch heute klingt das Entsetzen in der Stimme des Azubis durch. Nach drei Stunden waren sie in Liancourt, wurden in einer Schule untergebracht und von den Lehrerinnen vor Ort gut versorgt: Es gab Matratzen, Mückenschutz und frisches Essen. "Was die Leute da für uns getan haben, das war genauso bewundernswert wie das, was wir für die getan haben", meint Jörg Tappiser.
Mit Abwassersystem und Solarzellen
Auf der Baustelle hatten die deutschen Maurer-Azubis, ihre Lehrer und die einheimischen Bauarbeiter immer eine Menge Zuschauer. Der ganze Ort, besonders die Kinder, wollten mitbekommen, was hier passierte, viele von ihnen hatten noch nie einen Menschen mit weißer Haut gesehen. Die Hitze war eine Herausforderung nicht nur für die Haut: Bei rund 40 Grad musste der trockene, steinige Boden mit Spitzhacken gelockert werden - Bagger gab es nicht. Die Deutschen zimmerten Holzverschalungen, die Einheimischen rührten in einem mit Benzin angetriebenen Mischer Beton an und gossen die Fundamente "in einem Wahnsinnstempo", erzählt Tappiser, "das hätten wir nicht geschafft."
Der zweite Trupp der Berufsschule zog ein halbes Jahr später die Mauern für die insgesamt neun Gebäude hoch, zwischendurch bohrten die Haitianer einen Brunnen und errichteten eine Umfriedungsmauer. Der gesamte Komplex wird erdbebensicher und umweltfreundlich gestaltet, es gibt ein Abwassersystem und Solarzellen. Damit werden die Lehrerinnen dort weit mehr Luxus genießen können als die meisten Haitianer, die von der Hand in den Mund leben und von fließend Wasser und Strom nur träumen.
Im Jahr 2012 sind zwei weitere Arbeitseinsätze der Kempener geplant, um den Gebäudekomplex fertig zu stellen. Das Budget für den Bau wird damit erschöpft sein, für den Innenausbau benötigt die Peter-Hesse-Stiftung Spenden.
"Die Leute sind uns ans Herz gewachsen"
"Wir werden doch Maurer, wir können doch Häuser bauen" - das war der Anfang. Die Berufsschüler wollten einfach etwas geben von dem, was sie können. Und doch nehmen sie aus den Besuchen in Haiti viel mehr mit als sie jemals geben könnten: Die Erfahrung von Armut, die Begegnung mit Menschen einer anderen Kultur, die Gemeinschaft auf der Baustelle. Verständigen können sie sich mit Hilfe von zwei Dolmetscherinnen: eine für deutsch-französisch, eine für französisch-kreolisch. "Wir haben Späße gemacht, wenn auch mit Hand und Fuß", erzählt Jörg Tappiser, "und morgens zusammen gebetet". Der 22-jährige will unbedingt wieder hin, "ich glaube die freuen sich noch mehr als ich".
Sind Freundschaften entstanden? "Freundschaften würde ich das nicht nennen", meint der Azubi, "die Leute sind uns ans Herz gewachsen", so formuliert er es lieber. Am Ende ihres ersten Aufenthaltes ließen die Deutschen ihre Arbeitsschuhe in Liancourt zurück, damit die Einheimischen nicht weiter in Flip-Flops auf der Baustelle schuften müssen. Haben die Azubis etwas gelernt für ihren Beruf als Maurer? Nur wenig - wie haitianischer Mörtel angerührt wird, wie man ohne elektronische Geräte zurecht kommt. Viel wichtiger war der Lernerfolg im Fach Religion. Die Themen, so Pfarrer Roland Kühne, waren "Menschenrechte" und "Recht auf Bildung". Und - das wichtigste: "Nächstenliebe sehr praktisch."