Herr Grenz, der arabische Frühling hat große Hoffnungen geweckt. Wie steht es heute um die Menschenrechte in der Region?
Wolfgang Grenz: Nordafrika erlebt einen epochalen Umbruch, der so gewaltig ist wie der Fall der Mauer. Aber die Situation steht auf Messers Schneide. Auf die Euphorie folgte Ernüchterung. Zum Beispiel Ägypten: Machthaber Husni Mubarak ist weg, ebenso einige Minister. Aber die Strukturen sind die alten. Es wird weiter gefoltert. Und die Menschenrechtsverbrechen der Vergangenheit werden nicht aufgearbeitet, die ehemaligen Folterer nicht zur Rechenschaft gezogen. In dem Gremium, das erste Verfassungsänderungen ausgearbeitet hat, war keine einzige Frau. Auch die Meinungsfreiheit ist nicht garantiert, Blogger sind weiter in Haft. Das sind Alarmzeichen.
Was muss getan werden?
Grenz: Amnesty hat mehrfach an die politische Führung in Kairo appelliert, Ägypten zum Vorreiter im Kampf für die Menschenrechte in der arabischen Welt zu machen. Das fängt bei der Justiz an: Wie kann es sein, dass in Ägypten mehrere tausend Zivilisten vor Militärgerichten angeklagt sind? Viele stehen nur deshalb vor Gericht, weil sie Kritik geäußert haben. Und bei den Protesten der Kopten im Oktober, bei denen viele Menschen getötet wurden, fragt man sich: Was hat die Militärregierung gemacht? Hat sie die Gewalt gegen Demonstranten, die offenbar von der Armee und Bereitschaftspolizei ausging, bewusst zugelassen?
Am 28. November finden in Ägypten vorgezogene Parlamentswahlen statt. Was erwarten Sie?
Wolfgang Grenz ist Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International. Foto: epd-bild/Hanno Gutmann
Grenz: Auch nach den Wahlen dürfen die Menschenrechte nicht unter den Tisch fallen. Die Gefahr besteht, weil die sozialen und wirtschaftlichen Probleme so groß sind, dass sie die politische Tagesordnung dominieren. Viele junge Menschen sind ohne Job.
Rechnen Sie mit Wahlerfolgen islamistischer Bewegungen?
Grenz: Das ist in der Tat zu erwarten. Die islamistischen Gruppen in Nordafrika sind in der Vergangenheit stark bekämpft worden und haben einen gewissen Organisationsgrad. Das zeigt das Beispiel Tunesien. Jetzt muss man versuchen, Einfluss zu nehmen, damit sich islamistische Parteien zur Einhaltung fundamentaler Menschenrechte wie der Gleichberechtigung der Frauen, dem Schutz von Minderheiten und Anti-Diskriminierungsprinzipien verpflichten. Sonst werden die ganzen Werte der arabischen Revolution über den Haufen geworfen.
In Syrien sind mindestens 3.500 Menschen seit Beginn der Anti-Regierungsproteste vor acht Monaten getötet worden. Ist es an der Zeit, militärisch einzugreifen wie in Libyen?
Grenz: Nein. Wir sprechen uns nicht für militärische Interventionen aus. Wir setzen uns für Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung ein, wenn sie uns notwendig erscheinen. Militärisches Eingreifen bedeutet Krieg. Wir waren auch im Fall Libyen sehr vorsichtig.
Lehnen Sie militärische Interventionen bei Menschenrechtsverletzungen generell ab?
Grenz: Wir haben in einigen afrikanischen Ländern UN-Missionen unterstützt wie im Tschad, in Liberia und im Kongo, die quasi als Polizei zum Schutz der Bevölkerung entsandt wurden. Und die Gewalt anwenden konnten, wenn die Bevölkerung angegriffen wurde. Das ist etwas anderes als eine Militärintervention.
Gibt es darüber Diskussionen im weltweiten Amnesty-Verbund?
Grenz: Wir schließen einen Militäreinsatz nicht gänzlich aus, aber in der deutschen Amnesty-Sektion ist wegen der pazifistischen Tradition die Ablehnung besonders stark. In unserer internationalen Organisation wird jeder einzelne Fall geprüft. In der Regel äußern wir uns weder für noch gegen einen Militäreinsatz, beobachten aber genau, ob die Parteien Kriegsverbrechen begehen. Bei Libyen hat Amnesty begrüßt, dass es um den Schutz der Zivilbevölkerung gehen sollte. Wir haben den Einsatz aber nicht unterstützt, weil es nicht völlig klar war, dass die Militärintervention tatsächlich dem Schutz der Bevölkerung dient.
Was kann sonst für Syrien getan werden?
Grenz: Ein internationales Rüstungsembargo ist dringend notwendig. Russland ist zum Beispiel einer der größten Waffenlieferanten für Syrien. Erst vor kurzem sind dort syrische Militärhubschrauber repariert worden. Zudem müssen Gelder der syrischen Regierung auf Auslandskonten eingefroren werden. Solche Sanktionen könnten das Regime wirklich treffen.
Was hat der Westen aus der arabischen Revolution gelernt?
Grenz: Leider trifft man viel zu häufig auf Doppelzüngigkeit: Die Bundesregierung begrüßt zu Recht den Umbruch in Nordafrika, aber zur Niederschlagung der Proteste in Bahrain und der Unterstützung dafür aus Saudi-Arabien schweigt man. Und gleichzeitig belohnt man Saudi-Arabien mit Waffenlieferungen. Dabei hat Saudi-Arabien ohnehin eine miserable Menschenrechtsbilanz mit Todesstrafe, Diskriminierung von Frauen und Missachtung der Religionsfreiheit.
Sie meinen das Panzer-Geschäft?:
Grenz: Die Bundesregierung nimmt bisher nicht einmal Stellung zu den genehmigten Rüstungsausfuhren nach Saudi-Arabien. Wir wissen das nur aus Presseberichten. Das muss sich ändern. Die Bundesregierung muss bei der Genehmigung von Waffenausfuhren den Bundestag mit einbeziehen und offen erklären, warum ein Land wie Saudi-Arabien Panzer bekommen soll.
Entwicklungsminister Dirk Niebel hat die Menschenrechte zu einer Priorität erklärt.
Grenz: Was nützt das schöne Menschenrechtskonzept des Entwicklungsministeriums, wenn es durch Rüstungslieferungen in Krisengebiete unterlaufen wird? Wenn wir jetzt einen Umbruch in Nordafrika fordern, sollten wir auch für mehr Transparenz bei uns sorgen.
Was bedeutet der arabische Frühling für Sie?
Grenz: Nordafrika macht Hoffnung. Das ist trotz aller Schwierigkeiten ein gewaltiger Sprung nach vorn. Das zeigt, was für eine Kraft erwächst, wenn Menschen sich zusammentun. Das macht Mut, den Kampf für die Menschenrechte weiterzuführen.