"Die Lebensgeschichte nicht auf ein Imbissgericht reduzieren"

"Die Lebensgeschichte nicht auf ein Imbissgericht reduzieren"
Türkeistämmige Bürger in Deutschland sind nach der rechtsextremen Mordserie voller Angst und voller Wut. Sie ärgern sich über Ermittlungspannen der Behörden und auch über unwürdige Formulierungen. Es sei schwierig, unter solchen Umständen in Deutschland eine Heimat zu finden - immer noch.
17.11.2011
Von Canan Topçu

Zahide Sarikas hat wieder Panikattacken. Die Nachrichten über die Hintergründe der so genannten "Dönermorde" haben wieder alles hochkommen lassen. Neun Monate ist es her, dass sie von einem Unbekannten überfallen wurde. Sarikas ist Sozialdemokratin und in Konstanz bekannt. Sie engagiert sich in der Integrationspolitik und kandidierte für den baden-württembergischen Landtag. Mitte März griff ein Unbekannter sie in ihrem Wahlkampfbüro an. Der Täter zwang sie unter anderem, sich selbst Hakenkreuze auf den nackten Oberkörper zu ritzen.

Die 46-Jährige war auf dem Weg der Heilung und dabei, ihre Angst zu überwinden. Nun ist sie wieder da, die Angst vor Rechtsradikalen. Die Nachrichten der vergangenen Tage lässt Zahide Sarikas "nur in wohldosierten Portionen" an sich heran. Bilder und Fernsehbeiträge rund um die so genannten Dönermorde schaut sie sich gar nicht an. "Wem kann man in diesem Land vertrauen?" Die Frage ist nicht nur eine rhetorische. Viele andere Einwanderer aus der Türkei stellen sie sich auch.

"Ich möchte mich hier zuhause fühlen", sagt Zahide Sarikas. Seit mehr als 30 Jahren lebt sie in Deutschland, immer wieder kommen ihr Zweifel auf, ob sie in diesem Land wirklich erwünscht und willkommen ist. Dass die Behörden bei den Morden an zehn Menschen, von denen acht aus der Türkei stammten und einer aus Griechenland, zunächst keine Anhaltspunkte für rechtsradikale Motive fanden, das kann Zahide Sarikas überhaupt nicht verstehen. In Zusammenhang mit dem Überall auf sie selbst hatten Ermittler zwar erklärt, dass von einem politisch motivierten Übergriff auszugehen sei. Dem Täter auf die Spur kamen sie aber nicht. Den Gedanken, dass auch in ihrem Fall nachlässig ermittelt wurde, deutet sie nur an.

Rechtsradikaler Hintergrund? - "Wir haben es von Anfang an vermutet"

Angst, Misstrauen, Wut: Mit diesen Gefühlen ist Zahide Sarikas nicht allein. Angst. Misstrauen. Wut. Diese Worte fallen immer wieder, wenn türkeistämmige Bürger zu den als "Dönermorde" titulierten Vorgängen befragt werden. Das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat ist bei vielen Türkeistämmigen ohnehin schon angeknackst, jetzt hat es einen noch tieferen Riss bekommen. Anders als in der deutschen Öffentlichkeit ist unter ihnen aber niemand überrascht über die nun bekannt gewordenen rechtsradikalen Hindergründe. "Wir haben es von Anfang an vermutet", sagt beispielsweise der Journalist Kani Top aus Dreieich bei Frankfurt.

Karikatur des türkeistämmigen Kabarettisten Mussin Omurca zum Thema "Dönermorde".

Doch ernst genommen worden seien diese Mutmaßungen von den ermittelnden Behörden nicht. "Wenn wir den Verdacht äußern, dass fremdenfeindliche Gesinnung die Ursache ist, dann werden wir als überempfindlich abgestempelt", sagt der Mittvierziger. Einem aus der Türkei stammenden Menschen werde es nicht leicht gemacht, sich in Deutschland zuhause zu fühlen. "ich spreche aus Erfahrung", betont Kani Top. Die Blindheit der Behörden "auf dem rechten Auge" haben auch sein Misstrauen einmal mehr bestätigt, ja sogar gesteigert.

Der Ärger ist groß unter den türkeistämmigen Einwanderern. Und auch Wut ist immer wieder herauszuhören. Geradezu empörend findet es beispielsweise Adnan Dayankaç aus Rüsselsheim, dass "wir Migranten und Muslime unsere Rechtstreue beteuern und mit Unterschriften versichern sollen, es aber gerade die, die für den Rechtstaat stehen, sich daran nicht halten". Wie der Vorsitzende des Ausländerbeirats Rüsselsheim erwarten die Türkeistämmigen eine öffentliche Entschuldigung der Verantwortlichen.

"Mentale Verlegung an die Meerenge von Istanbul"

Anlass für Kritik ist aber nicht nur die Nachlässigkeit der ermittelnden Behörden, sondern auch ihre Wortwahl. Diese sei nicht nur Beweis der fehlenden Sensibilität, sondern Ausdruck der Vorurteile bei Behördenmitarbeitern gegenüber Migranten. Dass die Sonderkommission ausgerechnet "Soko Bosporus" genannt worden sei und die Ermordung von zehn Menschen unter "Dönermorde" subsumiert wurde, ärgert beispielsweise Hüseyin Ayvaz vom Deutsch-Türkischen Jugendwerk (DTJW).

Das DTJW ist eine Organisation, die seit vielen Jahren rechtsradikale Tendenzen anprangert. "Zehn Menschen fielen Neonazi-Serientätern zum Opfer. Jeder dieser Menschen war ein Individuum mit seiner eigenen ganz persönlichen Lebensgeschichte. Diese aufgrund ihrer oder der Herkunft ihrer Eltern auf ein Imbissgericht zu reduzieren, kommt einer Entwertung, ja sogar Entmenschlichung der Getöteten gleich", erklärt Ayvaz. Er könne "die mentale Verlegung an die Meerenge von Istanbul" nicht nachvollziehen, denn alle Tatorte lägen in der Bundesrepublik. "Wäre eine 'SoKo Franken' nicht realitätsorientierter gewesen?"

Die Mordserie habe doch nichts mit einem Drehspieß zu tun. "Der Anstand gebietet es, Begriffe, die die Brutalität der Taten abschwächen, nicht nur zu unterlassen, sondern auch andere aufzufordern, mit Opfern, gleich welcher Herkunft, respektvoll umzugehen", erklärt der Politologe. Seine Gefühle beschreibt Hüseyin Ayvaz so: "Mich begleiten Wut und Ärger. Von Resignation und Angst kann aber keine Rede sein. Dass nun endlich einige Behörden Ihre Blindheit auf rechtem Auge ein wenig behandeln lassen, stimmt mich eher zuversichtlich."

Das deutsche Gewissen heulend auf dem Beichtstuhl

So zuversichtlich wie Hüseyin Ayvaz sind nicht viele aus der türkeistämmigen Bevölkerung. Es bedürfe eines Umdenkens durch eine neue Debattenkultur, erklärte beispielsweise Zafer Senocak. Verhandelt werden müsse über Frage nach Heimat, nach deutscher Identität und über das Türkenbild. Von einem Verbot der NPD, das dieser Tage immer wieder gefordert wird, hält der aus der Türkei stammende Publizist nichts. Es gehe darum, rechtsradikalen Ansichten den Boden zu entziehen, erklärter er im Deutschlandradio, Verbote seien nicht das richtige Mittel.

Türkeistämmige Intellektuelle reagieren auf unterschiedliche Weise auf die Nachrichten über die Morde in den Imbissbuden. Der Kabarettist Mussin Omurca fragt sich, wie das Thema in den nächsten Tagen in Talksendungen des Deutschen Fernsehens aufgegriffen und wer als Gäste eingeladen werden. Thilo Sarrazin als der "gefragteste Vordenker" werde wohl vorerst nicht so schnell von Sendung zu Sendung, von Anne Will bis Beckmann, von Benjamin von Stuckrad-Barre bis Lanz gereicht. "Das deutsche Gewissen muss sich erstmal in diesen schweren düsteren Wintermonaten auf einen Beichtstuhl hocken und sich ausheulen. Mit dem Frühling erwacht die Gesellschaft", merkt Mussin Omurca ironisch an. Mit Ironie, muss man wissen, versuchen nämlich nicht wenige Deutsch-Türken, die tagtäglich bekannt werdenden Nachrichten über Verstrickungen des Verfassungsschutz und Pannen in den Ermittlungen zu verdauen.


Canan Topçu ist Journalistin und widmet sich seit vielen Jahren den Themen Migration, Integration und Islam. Sie lebt in Hanau und arbeitet für unterschiedliche Medien.