Das Vaterunser als Brief an die Zukunft

Das Vaterunser als Brief an die Zukunft
Drei Briefe aus der deutschen Geschichte und Gegenwart: Ein kriegsgefangener Soldat schreibt 1945 an sein Kind in der fernen Heimat, eine ostdeutsche Mutter 1990 an ihren Sohn im Westen, ein junger Mann der Gegenwart an seine ungeborene Tochter. Was die drei Briefe als Leitfaden verbindet, ist das Vaterunser. Mit seiner Predigt, die er am Tag der deutschen Einheit 2010 in der Leipziger Nikolaikirche hielt, wurde der Theologe Rüdiger Lux mit dem diesjährigen ökumenischen Predigtpreis des Verlages für die Deutsche Wirtschaft ausgezeichnet. Hier die Predigt im Wortlaut.
16.11.2011
Von Rüdiger Lux

Liebe Gemeinde,

heute am 20. Jahrestag der deutschen Einheit lesen und hören wir drei Briefe, die nie geschrieben wurden. Briefe, die das Jahrhundert geschrieben hat, das hinter uns liegt. Ich nenne sie Vaterunser-Briefe; Briefe, die ihre Zeit im Lichte des Gebetes Jesu zu verstehen suchen.

Woronesch, 3. Oktober 1945

Liebe Helene,

ich weiß nicht, ob dich dieser Brief jemals erreichen wird. Wenn er seinen Weg findet, dann wird ihn deine Mutter für dich aufbewahren, solange bis du ihn selbst einmal lesen kannst.

Heute wirst du ein Jahr alt. Als ich deine Mutter und dich Weihnachten 1944 zum letzten Mal gesehen habe, da warst du uns ein Licht in der Dunkelheit, ein stilles, vergnügtes Kind. Seither bin ich ohne Nachricht von euch. Ich weiß nicht, wie es euch geht und ich weiß auch nicht, ob und wann wir uns jemals wiedersehen.
Zu deinem Geburtstag wünsche ich dir, dass unser Vater im Himmel euch all das schenken möge, was ich als Vater auf der Erde dir und deiner Mutter in dieser ungewissen Zeit nicht zu geben vermag: Segen und Schutz vor allem Bösen, Güte und unbefangene Heiterkeit, Trost und Hilfe, und vor allem einen starken Sinn dafür, was Recht und Unrecht ist.

Unserem Volk und auch mir ist in den vergangenen Jahren dieser Sinn für Recht und Unrecht Stück für Stück abhanden gekommen. Ja, ich war begeistert von der neuen Zeit, von den Fahnen, den Uniformen, von den Stunden in der Hitlerjugend, von Sport und militärischer Zucht. Stolz habe ich das Braunhemd getragen. Und ich habe lange nicht verstanden, warum meine Mutter zu mir am Sonntagmorgen sagte: So gehe ich nicht mit dir in die Kirche, ziehe dir etwas Anständiges an.

Ja, deine Großmutter hat sich nichts vormachen lassen. Wenn der Führer im Radio sprach, meistens brüllte er, schaltete sie es ab. Und wenn ich protestierte, sagte sie: Er ist auch nur ein Mensch und kein Gott. Sein Reich wird wie alle Reiche der Welt vergehen. Und dann flüsterte sie wie einen Zauberspruch inständig die Bitte: Dein Reich komme.

Nun hat sie recht behalten. Das tausendjährige Reich ist wie eine faule Frucht vom Baum der Geschichte gefallen. Und der Führer hat unserem Volk nichts gebracht als Unrecht und Schande. Und wir, ich und meine Kameraden hier in der russischen Kriegsgefangenschaft, sind ihm darin blind gefolgt. Als im November 1938 die Synagogen brannten, haben wir neugierig am Straßenrand gestanden. Als unsere Schulkameraden, von denen wir manchmal gar nicht wussten, dass sie Juden waren, von einem Tag zum anderen einfach wegblieben, da haben wir nicht gefragt, was mit ihnen geschah. Als dann der Krieg begann, sahen wir darin kein Unrecht. Auf den Namen des Führers haben wir unseren Eid geschworen. Er war uns heilig.

Aber dann gab es diesen Sonntag in einem kleinen russischen Dorf. Aus der bescheidenen Holzkirche mit den Zwiebeltürmen hörten wir den Gesang. Wir gingen hinein, unrasiert, verschmutzt, mit unseren Waffen. Entsetzte Blicke der alten Mütterchen, der Kinder und weniger Greise. Augen, aus denen nur eines sprach: grenzenlose Angst. Der Pope hielt uns das Kreuz entgegen. Dann sprach er: óttsche nasch súschtschii na nebésach – Vater unser im Himmel. Und die Babuschkas fielen ein: da svyatítsya ímya Tvoé – Geheiligt werde dein Name. Die Augen, die Angst und dieses Gebet trafen mich wie ein Blitz. Sie zwangen mich förmlich auf die Knie. Plötzlich stand mir das ganze Unrecht vor Augen. Sie beteten und glaubten ja nichts anderes als das, was die Mutter mit mir an jedem Abend gesprochen hatte. Und seit langer Zeit stammelte ich erstmals wieder:
Geheiligt werde dein Name – Wie konnte ich nur den Namen Gottes mit dem Namen des Führers verwechseln? Dein Reich komme – Wie konnte es geschehen, dass ich für das Phantom eines großdeutschen Reiches zur Waffe griff und so viel Unfrieden und Leid über die Völker Europas und mein eigenes Volk brachte?

Liebe Helene, vergiss das nicht in deinem Leben, dass es verführerische Namen gibt, dass die Reiche der Welt steigen und fallen, das Friedensreich Gottes aber allein unsere Hoffnung bleibt. Macht es einmal besser als eure Väter. Und vergiss nicht das Vaterunser zu beten. Es hat mir die Augen geöffnet und einen klaren Blick geschenkt.

Ich umarme und küsse deine Mutter und dich zu deinem 1. Geburtstag. Gott behüte euch,

Dein Vater Franz

Lied: Vater unser im Himmelreich (EG 344,1-3)

Zeitz, 3. Oktober 1990

Lieber Paul,

die Angst ist weg, die Angst, dich erst in 16 Jahren wieder sehen zu dürfen, wenn ich 2004 meine erste Westreise als Rentnerin hätte beantragen dürfen. Ja, die Angst ist weg, die Angst um dich und unsere zerrissene Familie im geteilten Land. Noch erscheinen sie mir wie ein Traum – die Bilder vom Brandenburger Tor in dieser Nacht, von den Feierlichkeiten zum Tag der Einheit, von den tanzenden, singenden Menschen aus Ost und West, die sich einfach nur freuen.

Noch wollen sich immer wieder die dunklen Bilder darüber legen, die Mauer, der Stacheldraht, der Schießbefehl, die unendlichen Abschiede im Tränenpalast, wenn die einen in den freien Teil der Stadt fuhren und die anderen in der bleiernen Tristesse des Ostens zurück ließen. Die Angst ist weg. Und was bleibt, ist Dankbarkeit.

Da haben wir gedacht, diese ganze elende Geschichte der deutschen Teilung sei unabänderlich und ewig. Und lange Zeit war ich der Meinung, das sei eben Gottes Wille. Das sei die Last, die er uns auferlegt habe für die schwere Schuld, die wir in zwei fürchterlichen Kriegen auf uns geladen haben.

Als dein Großvater Franz 1955 aus der russischen Kriegsgefangenschaft kam, da haben wir überlegt, ob es nicht besser sei in den Westen zu gehen. Aber er war ein frommer Mann geworden. Mutter sagte manchmal: Ich erkenne ihn gar nicht wieder. Wo Gott einen hingestellt hat, sagte Franz, da soll man bleiben. Und dann zitierte er immer wieder den Brief eines großen Theologen, der von "Gottes geliebter Ostzone" gesprochen habe. Wir laufen vor niemandem davon, sagte Großvater. Geht es denn in der Geschichte nach unserem Willen? Kein Reich, von Menschen gemacht, währt ewig. Nicht mein, sondern dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden. Das war seine Litanei.

Oft habe ich mich gefragt, warum es Gottes Wille sein sollte, dass wir im Osten zurecht kommen mussten und Tante Grete im Westen leben durfte, nur weil sie 1948 zufällig in Hamburg ihren Mann und eine gute Stelle fand. Alles Gottes Wille oder nichts als eine böse Laune der Geschichte?

Als ich dann 1959 nicht auf die Oberschule gehen durfte, obwohl ich Klassenbeste war, weil ich mich nur konfirmieren ließ und nicht zur Jugendweihe ging, da ließ mir diese Frage keine Ruhe. Gottes Wille, dass ich nun nicht studieren sollte in seiner geliebten Ostzone?

Als im August 1976 in unserer Stadt der Pfarrer Oskar Brüsewitz den Kommunismus anklagte wegen der Indoktrination, Erziehung zu Lüge und Hass von Kindern und Jugendlichen in den Schulen und sich aus Verzweiflung öffentlich selbst verbrannte, da war wieder die Frage: Gottes Wille, was soll in seiner geliebten Ostzone denn noch geschehen?

Als du dann den Wehrdienst und den Dienst als Bausoldat verweigert hast und verhaftet wurdest, da wurde sie unerträglich diese Frage, ja sie wurde mir zur Qual: Ist auch das Gottes Wille? Kann er denn seine Ostzone nicht ein bisschen mehr lieben?

Doch dein Großvater Franz, mit dem ich oft darüber sprach, blieb unbeirrt. Wenn ich am Sonntag neben ihm in der Kirchenbank saß, sprach er es von Jahr zu Jahr inbrünstiger und nachdrücklicher: Dein Wille geschehe. Und mit der Zeit ging mir auf: Das ist ja eine Bitte, ein Brief an die Zukunft und den, der ihr Herr ist, die Bitte, dass Gottes Wille sich durchsetzen möge gegen die Willkür der Menschen, gegen alles Unrecht, gegen die Lüge, gegen Demütigungen und Benachteiligungen, gegen Unfreiheit und Reiseverbot. Und da konnte ich sie wieder mitsprechen, diese alten Worte, an denen ich beinahe irre geworden wäre.

Und als ich dich dann nach einem guten Jahr im Westen wusste, freigekauft, da war ich tief traurig und überglücklich zugleich. Du, wenigstens du hattest es geschafft. Und Großvater sagte: Dass der Junge jetzt nicht mehr bei uns ist, das müssen wir wohl auch als den Willen Gottes akzeptieren. Vielleicht hat er ja meine Bitte gehört: Und vergib mir meine Schuld. Ja, warum sollte denn die übernächste Generation, warum sollte Paul immer noch an der Schuld tragen, die auf uns, den Vätern und Großvätern lag? Und er war so stolz auf dich, als Tante Grete telegraphierte, dass du das ersehnte Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen hast. Wie sehr bedaure ich es, dass er diesen Tag heute nicht mehr miterleben durfte.

Paul, die Angst ist weg, und das ist das Größte und das Schönste an diesem Tag. Und was geblieben ist, ist nichts als Dankbarkeit, Dankbarkeit auch für die grauen Jahre, dafür, dass sich Gottes Wille in seiner geliebten Ostzone stärker erwies als die Willkür der Menschen.

Heute Abend bete ich ein Vaterunser für dich und unsere zerrissene Familie, die nun wieder nach Herzenslust zusammenkommen darf. Es grüßt und freut sich mit dir

deine Mutter Helene

Lied: Vater unser im Himmelreich (EG 344, 4-6)

Brief an eine ungeborene Tochter

Berlin, 3. Oktober 2010

Liebes Lenchen,

so wollen wir dich nennen nach deiner Großmutter. Deine Mutter und ich warten jetzt täglich darauf, dass du geboren wirst. Die Ultraschallbilder reichen uns nicht mehr. Wir wollen dich selbst im Arm halten. Und dein großer Bruder Hannes fragt bereits ständig nach dir. Du wirst also erwartet.

Doch was wird dich einmal erwarten in diesem Land und deinem Leben? Diese Frage stelle ich mir oft, wenn ich an eure Zukunft denke, deine und die deines Bruders. Heute feiern wir im ganzen Land den Tag der deutschen Einheit. Darüber werdet ihr nur noch aus den Geschichtsbüchern etwas erfahren, dass sich durch dieses Land einmal eine blutige Grenze zog, die Familien zerrissen hat. Diese Sorgen eurer Großeltern seid ihr los.

Also: was erwartet dich? Wenn ich in den Zeitungen lese, dann kann ich mir schnell ausrechnen, was dich erwartet: ein gigantischer Schuldenberg, den unsere Generation euch einmal hinterlässt; gefährlich strahlender Atommüll, von dem noch keiner weiß, wo er einmal bleiben soll; und die Regierung verlängert wider besseres Wissen die Laufzeiten; eine alternde Gesellschaft und ein hochtechnisiertes Gesundheitswesen, die die Kosten explodieren lassen, und, und, und…

Doch dann denke ich immer: Zunächst einmal erwarten dich deine Eltern, dein Bruder, zwei Großmütter und ein Großvater. Du wirst in eine Familie hineingeboren, die sich auf dich freut. Das ist nicht wenig. Das ist vielleicht das wichtigste Kapital für deine Zukunft überhaupt, dass du erwartet wirst! Diese Freude und nicht die Sorgen sollst du spüren und in deine Jahre mit hinein nehmen, gerade in die schwierigen Jahre, die kommen werden.

Daher sollst du dich an all dem Guten und den Gütern, die auf dich warten, von Herzen freuen, am täglichen Brot, an dem es dir – so Gott will – nicht fehlen wird, um das wir im Vaterunser bitten; am Spiel, am Tanz, am Lernen. Aber vergiss in deinem Leben nie, dass das alles nicht selbstverständlich ist. Es ist ein sehr großes Geschenk, dass uns Gott an seiner unerschöpflichen Fülle Anteil gibt.

Ja, das Vergessen desjenigen, dem wir all das Gute und die Güter der Erde, das Brot und das Wasser danken, ist weit verbreitet in diesem Land. Bei deinem Urgroßvater ging es nie ohne ein Tischgebet ab. Und wenn ich schon vorher den Löffel in der Suppe hatte, dann spüre ich noch heute seinen schalkhaft bekümmerten Blick und höre den Satz: Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.

Und immer dachte ich, dass ich der Böse sei. Bis er mir, als ich schon älter und vernünftiger war, auf einem Spaziergang erklärte, dass das Vergessen Gottes die große Versuchung des Lebens ist. Und dann erzählte er von den Jahren in seiner Jugend, in der er und seine Freunde den Herrgott ganz vergessen hatten. Da liefen sie anderen aufgeblähten Göttern hinter her, solchen aus Fleisch und Blut, die sich das Recht anmaßten, über Tod und Leben von Menschen und ganzen Völkern zu bestimmen. Und er redete von dem Bösen, zu dem all dieses leichtfertige Gottvergessen geführt hatte. Von dem Krieg und der Schuld, von Flucht und Vertreibung, von dem geteilten Land und den langen Jahren in der Gefangenschaft. In ihr hatte er an jedem Tag neu gelernt, wie gut es ist, sich nicht nur an den eigenen Vater und die Mutter zu erinnern, sondern auch an unseren Vater im Himmel.

Und dann baute er sich förmlich vor mir auf und sagte: Schau mich alten verknitterten Greis an. In meinem jugendlichen Leichtsinn wähnte ich mich als Halbgott. Und heute gehe ich am Stock und lange wird es nicht mehr dauern, da gehe ich aus der Welt. Und ich protestierte: Opa, du wirst noch lange leben! Aber tief im Inneren wusste ich, dass er recht hatte. Und Opa Franz widersprach mir. Nun red mal keinen Unsinn, mein Jung. Und traurig musst du auch nicht sein. Ich weiß doch, wo ich bleibe, bei meinem Herrn Jesus. Der wird wohl noch ein Plätzchen für mich haben in seinem Reich.

Seitdem, liebes Lenchen, haben die letzten Worte des Vaterunsers – Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen – für mich einen anderen Klang. Sie erinnern mich immer an Opa Franz, und daran, dass wir aus einer großen Quelle der Kraft und der Herrlichkeit heraus schöpfen und leben dürfen; dass unsere, meine und deine begrenzte Lebenszeit, von einer Ewigkeit umfangen ist, die viel weiter reicht als unsere eigenen Kräfte und Herrlichkeiten, mit denen wir manchmal in den Tag hinein leben. Und wenn du jemals in die Versuchung gerätst, das zu vergessen, Lene, dann sprich ein Vaterunser, da steht alles drin, was ein Mensch zum Leben braucht. Das hat mir Opa Franz beigebracht. Und das ist mir so wichtig geworden, dass ich es dir schon heute sagen möchte, obwohl du noch gar nicht geboren bist.

Dein Vater Paul

Das, liebe Gemeinde, soll uns wichtig sein am Tag der deutschen Einheit, dass die Bitten des Vaterunsers Briefe an die Zukunft sind und an ihren Herrn. Vielleicht ist das das Beste, was die Christenmenschen für dieses seit 20 Jahren wieder vereinte und doch so gottvergessene Land und seine Zukunft tun können, dass sie in ihm die Erinnerung an das Vaterunser wach halten, das Gebet der Zukunft.

Und der Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus heute, künftig und in alle Ewigkeit. Amen.

Lied: Vater unser im Himmelreich (EG 344,7-9)