Nach Fukushima geht Japan seinen sanften Weg

Nach Fukushima geht Japan seinen sanften Weg
Mehr als tausend Nachbeben haben Japan in den ersten Wochen nach dem großen Erdbeben am 11. März in der Präfektur Fukushima durchgeschüttelt. Etwas, das man nicht oft in seinem Leben erfahren kann. Aus Tokyo beschreibt der Journalist Berndt Otto, wie es sich anfühlt, im Japan nach Fukushima zu leben.
12.11.2011
Von Berndt Otto

Ich lebe hier in Tokyo. Besorgte Anrufe aus der Heimat und die Meldungen in den westlichen Medien überschlagen sich. Die wirkliche Lage ist schwer einzuschätzen. Während das japanische Fernsehen lediglich rund um die Uhr Bilder von den Tsunamis und den Zerstörungen in den primär betroffenen Gebieten zeigt, spekuliert die ausländische Presse über einen nuklearen Supergau und zeichnet ein Weltuntergangsszenario.

Die Botschaften wechseln nach Osaka und ein Freund, der in der US Army-Base in Yokohama arbeitet, ruft mich an. "Sie sind alle abgehauen!" meint er und sagt, dass er auch den nächsten Flieger in die Heimat nehmen wird. Man liest von ausverkauften Geigerzählern in Europa und einige Länder wie Österreich oder die Ukraine fangen an, ihre Leute auszufliegen.

Bei Fukushima gibt es nur ein Achselzucken

Auf der andere Seite die Realität in der japanischen Hauptstadt. Lange Schlangen von Anzugträgern vor den Bahnhöfen. Die Züge müssen wegen den Nachbeben immer wieder anhalten oder fallen aus. Aber es sind keineswegs Flüchtlinge, sondern Menschen, die ganz normal zur Arbeit fahren als wenn nichts geschehen wäre. Ich habe in den ersten Wochen nach der Katastrophe mit vielen Menschen hier gesprochen. "Das Erdbeben war furchtbar, nicht?" bekommt man zu hören, aber wenn das Thema auf den Reaktor in Fukushima kommt und eine radioaktive Kontamination, der wir alle möglicherweise ausgesetzt sind, kommt lediglich ein Achselzucken.

Radioaktivität kann man nicht sehen, nicht riechen und nicht schmecken und ist daher etwas, das von der japanischen Denkweise her nicht als unmittelbare Bedrohung angesehen wird.

Hinzu kommt natürlich die in den westlichen Medien oft als mangelhaft kritisierte Informationspolitik der japanischen Regierung. Und man kann in diesem Falle vereinfacht Regierung sagen, da es in der Realität keine Pressefreiheit für TV und Tageszeitungen gibt. Diskussionsrunden im Fernsehen findet man kaum und wenn, dann nie als Live-Übertragung. Auch die vielen Anti-Atomkraft-Demonstrationen, die hier inzwischen schon mit tausenden Teilnehmern stattfinden, werden in den Nachrichten auch nicht mit einem Wort erwähnt.

Es gibt viele Dinge, die nach westlichen Massstäben Zweifel aufkommen liessen, ob Japan tatsächlich eine Demokratie ist. So sieht auch der Rücktritt des japanischen Regierungschefs wegen angeblicher Mängel im Krisenmanagement während der Katastrophe keineswegs Neuwahlen vor, sondern er wird lediglich durch einen anderen Mann aus der eigenen Partei ersetzt.

Dennoch ist Japan ein freies Land. Jeder kann überall auf der Strasse seine Meinung frei sagen und niemand würde deshalb verfolgt.

Auch nach dem Erdbeben gab es keinen Streit

Obwohl ich schon so lange hier lebe, hat die Katastrophe in Fukushima viele Eigenarten der japanischen Kultur noch einmal deutlich gezeigt und ein Sprichwort besagt: Man brauche nicht darüber nachzudenken, was in Japan anders ist – alles ist anders.

In einem japanischen Fernsehinterview hat man mich mal gefragt, was das erstaunlichste wäre, dass ich hier beobachtet hätte. Ich brauchte nicht lange zu überlegen und antwortete: "Es ist das Phänomen, dass alle hier die Regeln befolgen ohne dass eine Bestrafung in Aussicht steht."

Und das ist in der Tat einer der Grundpfeiler der japanischen Gesellschaft, viel tiefer verwurzelt als politische Strukturen. Alles ist in Japan geregelt, wirklich alles. Ob im Privaten, in der Öffentlichkeit oder auf dem Arbeitsplatz und niemand würde je auf die Idee kommen, diese Ordnung in Frage zu stellen. Was nach westlichem Denken oft wie ein "Roboter-Staat" aussieht, in dem die Individualität des einzelnen keine Berücksichtigung findet, ist eigentlich eine hervorragend funktionierende Gesellschaft, die vor allem Sicherheit bietet.

Geldbörsen hängen hier in der vollgestopften Bahn achtlos aus der Hosentasche und würden dennoch nicht gestohlen werden und wenn sich jährlich eine Million Menschen im Yoyogi-Park zum "O Hanami", dem traditionellen Feiern und Trinken unter Kirschbäumen treffen, sieht der Park hinterher wie geleckt aus, weil jeder ganz selbstvertsändlich seinen Müll wieder mitnimmt, auch wenn er so betrunken ist, dass er kaum noch stehen kann.

So war es eigentlich auch nicht verwunderlich, dass die Polizei ebenfalls arbeitslos war als selbst in Tokyo wenige Tage nach dem Erdbeben die Regale in den Geschäften teilweise leer waren. Es gab keinen Streit um die letzte Flasche Mineralwasser und alles lief unglaublich diszipliniert ab. Sieht man manchmal Berichte aus Katastrophengebieten in anderen Ländern, ist das durchaus nicht selbstverständlich und Polizei, Armee und Nationalgarde haben oftmals alle Hände voll zu tun.

Der Verlust des Wohlstandes als nationales Schreckgespenst

Fakt ist, dass die japanische Regierung ihre Bevölkerung lange über die wirkliche Lage an den Reaktoren im Unklaren gelassen hat und die Situation besonders in den hoch strahlenbelasteten Regionen in Fukushima und Ibaragi noch immer herunterspielt. "Tohoku Ganbare!" lautet die seit Monaten laufende Regierungskampagne, die die Bevölkerung dazu auffordern soll, Lebensmittel aus den verseuchten Gebieten zu kaufen. Hierbei geht es natürlich ums Geld. Bei einer Umsiedlungen der betroffenen Bauern aus der überwiegend landwirtschaftlich strukturierten Provinz käme es unweigerlich zu finanziellen Forderungen gegenüber der Regierung und dem Kraftwerksbetreiber TEPCO.

Langsam werden auch Rufe nach einer Privatisierung der Energiewirtschaft laut, um das Band zwischen der Regierung und dem Energiekonzern TEPCO zu zerschlagen und somit auch den Weg für alternative Energien freizumachen. Aber man muss berücksichtigen, dass Ökologie und Umweltschutz hier bislang noch keine Lobby in der Politik haben. Eine "grüne Partei" gibt es hier nicht und die Umwelt- und Antikernkraft-Bewegungen, die sich in Deutschland bereits in den 80er Jahren formiert haben, hat es hier ebenfalls nie gegeben.

Japan hat noch immer Probleme, von der eigenen Technikgläubigkeit Abstand zu gewinnen. Es war die Technik und die Vision, damit alles zu beherrschen, die nach dem zweiten Weltkrieg den kometenhaften Aufstieg Japans vom armen Bauernstadt zur Wirtschaftsmacht ermöglichte, und der vermeintliche Verlust des Wohlstandes wird auch heute noch gern als Druck- und Propagandamittel eingesetzt. Ohne Atomkraft müsse man sich in Zukunft im Winter durch den Verzehr von warmen Suppen, doppelter Bekleidung in der Wohnung und einem Spaziergang aufwärmen – so die Empfehlungen des Ministerium.

Dabei leuchtet die Neonreklame wieder wie eh und je, obwohl man dies bei Verlust der Kraftwerke in Fukushima als unmöglich prophezeit hatte. Tatsächlich mussten viele Kraftwerke in der Vergangenheit immer wieder für Wartungsarbeiten abgeschaltet werden, was überhaupt keine spürbaren Auswirkungen hatte.

Japan geht seinen sanften Weg

Was kann man für die Zukunft erwarten? Es wird alles langsam gehen – den sanften Weg, wie man es hier gewöhnt ist. Die japanische Kultur und Denkweise bietet wenig Raum für Diskussionen oder kontroverses Denken. Seine Meinung zu sagen, gilt als unhöflich, selbst im Privaten, und ich habe hier in den vielen Jahren, in denen ich hier lebe, noch nicht einmal das Wort "Nein" gehört. Obwohl es dafür ein japanisches Wort gibt, das man sogar in der ersten Lektion des Japanischunterrichtes lernt.

Ein hoher japanischer Manager hat einmal auf einem Vortrag über japanische Firmenstrukturen in Düsseldorf gesagt: "Die Aufgabe eines Chefs in Japan besteht nicht darin, Entscheidungen zu treffen, sondern Harmonie herzustellen." Das ist es, was hier immer und überall als höchstes Ziel gilt. Selbst Fragen werden hier nur ungern gestellt oder nur dann, wenn man davon ausgehen kann, dass der Gesprächspartner die gleiche Ansicht vertritt.

Veränderungen sind im Land der aufgehenden Sonne also eher langsam zu erwarten. Keine Hast, keine übereilten Entscheidungen, was nach westlichen Maßstäben oftmals als Handlungsunfähigkeit gedeutet wird. Aber es ist der japanische Weg und diese Katastrophe hat einmal mehr gezeigt, wie überlebensfähig diese Kultur ist. Während der Euro und der Dollar um den Abstieg kämpfen, ist der Yen stark wie nie. Aber auch vom Ablauf der Ereignisse kann ich mir eine ähnliche Disziplin und Menschlichkeit sowie das Fehlen der großen Panik in keinem anderen Land der Erde in dieser Form vorstellen.


Berndt Otto ist freier Journalist und Fotograf in Tokyo.